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Berlin: Gertrud Elsner (Geb. 1919)

„Junger Mann, würden Sie mir bitte das Fahrrad hochtragen.“

Sie war auch streng. Das gehört bei einer Kindergärtnerin der alten Schule dazu. Ihre Strenge hat in den vielen Jahre aber so viel Freundlichkeit und Wärme angenommen, dass sie wie eine erfrischende Animation daherkam. Manche Kinder maulten trotzdem: Schon wieder ein Gedicht aufsagen! Schon wieder ein Lied singen! Dann griffen sie doch zum Würfel, der ihnen die Strophen zuweisen sollte. Nach dem Vortrag durfte sich jeder eine Süßigkeit nehmen. Und am Ende waren alle froh, dass Gertrud wieder so eine schöne Weihnachtsfeier ausgerichtet hatte, bei ihnen im Seniorenclub an der Herthastraße.

Gertrud war alleinstehend, wie man so sagt. Sie hatte im Leben keinen Mann gefunden, aber so viele andere Menschen, um die sie sich kümmern konnte, dass der fehlende Mann nicht weiter auffiel. Gertrud hatte eine natürliche Begabung, die Zügel an sich zu ziehen. Sie war führungsstark, zielorientiert und erreichte meistens das, was sie sich vorgenommen hatte.

„Junger Mann, würden Sie mir bitte das Fahrrad hochtragen.“ Für Gertrud hätte die BVG nicht die Aufzüge in die U-Bahn-Stationen einbauen müssen.

1944 wurde sie mit 25 Jahren Leiterin eines Kindergartens in Neukölln. Sie wechselte dann dreimal die Einrichtung, blieb aber immer Chefin, bis zur Pensionierung 1983. Im gleichen Jahr eröffnete der Seniorenclub Herthastraße, und Gertrud wechselte von der Enkel- in die Großeltern-Betreuung. Sie organisierte Theaterabende und Bastelnachmittage, dekorierte Faschingsfeiern und Sommerfeste, und stieg unaufhaltsam zur stellvertretenden Clubleiterin auf. Der eigentliche Chef wurde manchmal das Gefühl nicht los, gar nicht mehr Chef zu sein.

Wenn im Seniorenclub nichts zu tun war, machte sie Ausflüge mit den Kindern aus ihrem Haus. Sie durften bei ihr spielen, Hausaufgaben machen oder übernachten. Gertrud holte Nachbarskinder von der Kita ab und machte ihnen was zu essen. Es schien ihr nichts zur Last zu werden. Sie war so klein und flink und immer herausgeputzt, dass niemandem auffiel, dass auch Gertrud älter wurde.

Genau darum ging es. Die Welt sollte ein wenig staunen. Am schönsten war, wenn ein Arzt nach einer Untersuchung ungläubig nachfragte: Wie alt sind Sie?

Beim Berliner Sportclub, Abteilung Ausgleichssport, erschien Gertrud stets pünktlich und mental hervorragend disponiert. War der Trainer verhindert, übernahm sie das Vorturnen. Am Wochenende führte sie eine Fahrradgruppe 60 Kilometer durch West-Berlin. Wenn die Zeit reif war, wurde an einer Wiese Halt gemacht, und Gertrud präsentierte den Teilnehmern, wie ein anständiger Kopfstand auszusehen hat.

Gertrud war über Wochen verplant. Theater, Philharmonie, Leichtathletik im Olympiastadion, Canasta im Seniorenclub, Günther Jauch im Fernsehen, Kino mit den Nachbarskindern. Zum Skifahren in die Alpen, zum Wasserskifahren an den Wolfgangsee. Legendär ihre Reise nach Australien, da war sie Mitte 70. Am Strand soll sie unter dem Jubel der Einheimischen ein Surfbrett bestiegen haben. Jedes Jahr machte sie Ferien an der Ostsee, und jeder Urlaubstag begann mit einem Bad im Meer.

Als sie dann doch älter geworden war und die kleinen Steigungen mit dem Fahrrad nicht mehr schaffte, blieb sie nicht traurig zu Hause. „Wo kehrt ihr ein? Ich fahr’ dann mit der Bahn hin.“

Sie ging zum Sport, auch wenn sie immer öfter auf der Bank saß und zuschauen musste. Sie litt an Krebs, mochte aber nicht darüber reden.

Die Augen ließ sie operieren, damit sie nicht weiter an Sehkraft verloren. Die Zähne sollten gemacht werden, damit sie wieder weiß und gesund aussahen. An einem Sonntag im Juni ging sie mittags mit einer Freundin essen, nachmittags spielte sie „Rummy Cup“, abends sah sie fern, in der Nacht blieb dann ihr Herz stehen. Thomas Loy

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