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Wundersames aus dem Wunderwagen. Die Schauspielerin Ivonne Johna erzählt die Geschichte des roten Zigarettenetuis.

© Björn Kietzmann

Berlin: Geschichten to go

Woher kommt das rote Zigarettenetui? Was sagt uns der Becher? In einem Bauwagen in Rummelsburg werden die Geschichten einfacher Dinge erzählt.

Die Tür des alten Bauwagens klemmt ein wenig. Drinnen wird noch einmal kurz gerüttelt, dann fliegt sie endlich auf, das Publikum kann eintreten. In der Mitte steht ein kleiner Tisch, überall liegen Gegenstände herum. Hier soll ein Theaterstück aufgeführt werden? Langsam setzen sich die Zuschauer auf die stoffbezogenen Bänke rund um den kleinen Tisch, es wird eng. Alice sitzt auf einem Stuhl, watet, bis alle drin sind. Dann geht die Tür zu und Alice nimmt das rote Zigarettenetui in die Hand. Und beginnt einfach zu erzählen.

Alice heißt eigentlich Ivonne Johna und ist die Erzählerin im „Wunderwagen“, wie sie und ihre Kolleginnen der Performancegruppe KiezToGo den alten Bauwagen nennen.

Das rote Leder des Zigarettenetuis ist abgegriffen vom täglichen Gebrauch. Die Seiten sind angeschlagen. Alice untersucht es ganz genau und erzählt dann seine Geschichte: Das Etui stammt aus Paris und gehört einer alten Dame. Mit 119 Jahren entschied sie sich plötzlich, mit dem Rauchen aufzuhören. Aus Eitelkeit, denn sie war erblindet und brauchte nun Hilfe beim Anstecken jeder Zigarette. Aus diesem Grund beschloss sie, die Zigaretten beiseitezulegen. Das Etui blieb in der Schublade und zwei Jahre später war die Dame tot. Ob sie vielleicht länger gelebt hätte, wenn sie nicht mit dem Rauchen aufgehört hätte? Das weiß man nicht.

„Jedes Objekt hat eine Geschichte zu erzählen“, sagt Christiane Wiegand. „Nur hören wir ihnen nicht mehr zu.“ Wiegand ist die Regisseurin des Erzähltheaters, das derzeit auf dem BLO-Gelände in Rummelsburg kampiert. Zusammen mit der Performancegruppe reist sie umher, sammelt Gegenstände und erzählt ihre Geschichten.

Die kaputte Fahrradklingel aus Lichtenberg, der To-go-Becher aus Friedrichshain, die kleine Haarspange aus China. Von nah oder fern, aus dem Kiez oder vom anderen Ende der Welt, Gegenstände aus unserer Zeit oder aus der Vergangenheit. Manche Geschichten sind banal, andere fantastisch. Alltagsgeschichten und solche von Hermann Hesse, Hans Fallada oder Haruki Murakami. „Das ist die Lizenz des Erzählers“, sagt Wiegand. Er darf die Geschichte so weitergeben, wie er sie hört, oder er verfremdet sie, spinnt sie weiter.

„Jede Geschichte verlangt nach ihrer eigenen Form“, sagt auch Johna. Das Erzähltheater ist für sie eine besondere Herausforderungen. Es gibt keine Bühne, sie ist als Erzählerin auf sich allein gestellt und muss sich auf die Ausdrucksstärke ihrer Stimme, auf die Suggestionskraft der Geschichte verlassen. Eine Dramaturgie gibt es nicht, die Zuschauer dürfen Fragen stellen und Johna muss sich jedes Mal neu auf sie einstellen. „Wenn ein Kind im Raum sitzt, sollte ich bestimmte Geschichten besser nicht erzählen“, sagt sie und lächelt.

Die Interaktion kommt in Lichtenberg gut an. „Nach einem stressigen Tag tut es gut, bei einer Geschichte den Alltag zu vergessen“, sagt ein Mann aus dem Publikum. Johna merkt, dass es immer schwieriger ist, ihre Zuhörer zu verführen. „In unseren heutigen Informationsgesellschaft hat sich die Kultur des Erzählens verändert“, sagt auch Wiegand. Statt zu Erzählen werde informiert, statt zu Lauschen werde aufgenommen. Vielen, sagt Wiegand, falle es schwer, abzuschalten, sich auf die Geschichte einzulassen.

Die Erzählkultur hat sie in Marrakesch kennengelernt. „Dort lassen sich die Menschen anders auf die Geschichten ein“, sagt sie. Und erklärt: An jeder Straßenecke stehen Menschen, die etwas erzählen. Ihre Stimme zieht die Vorbeigehenden in ihren Bann. Dann stockt die Erzählung und es geht erst im Tausch gegen ein paar Dinar weiter. Das Erzählen ist fest im Alltag verankert.

Im Lichtenberger Erzähltheater wird aber noch etwas anderes deutlich. „In der heutigen Zeit sind die Geschichten der Dinge kürzer geworden“, sagt Wiegand. „Die Sachen werden schneller weggeschmissen.“ Die Tasse wird durch den Becher ersetzt. Die Socken werden nicht mehr gestopft, sondern in den Müll geworfen. Konnte ein einfacher Handschuh mal die Geschichte einer ganzen Generation widerspiegeln, so hört die Erzählung des To-go-Bechers bereits nach wenigen Schritten und Sätzen auf.

Mit KiezToGo versucht Wiegand die Kultur des Erzählens neu zu beleben und gleichzeitig, den Dingen wieder mehr Wertschätzung entgegenzubringen. Bald will sie sich auch in anderen Bezirken auf die Suche begeben.

Die nächsten Vorstellungen finden am heutigen Sonnabend und am Sonntag in der Kaskelstraße 55, BLO-Atelier am S-Bahnhof Nöldnerplatz statt. Einlass ist um 18, 20 und 21 Uhr.

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