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Der Pfahl begegnet unserer Autorin jeden Morgen zur Arbeit.

© Kai-Uwe Heinrich

Gesichter der Stadt: Ganz Berlin auf einem Mast - die Geschichten hinter den Zetteln

Jeden Morgen kommt unsere Autorin an einem Ampelmast vorbei, der beklebt ist mit Werbeslogans, Stickern, Angeboten aus dem Kiez. Eines Tages beschließt sie, dem Ruf der Zettel zu folgen. Und trifft Altrocker, Jungunternehmer und eine unmögliche Liebe.

Der Aufkleber muss neu sein, den kenne ich noch nicht. Irgendjemand hat ihn sorgsam unter das zerfledderte Chaos geklebt, auf den blanken Mast. Die winzige Schrift: eine Herausforderung. Ich entziffere mühsam: „Wir sind ein Orchester ohne Noten. Eine Band ohne Verstärker. Dreißig Stimmen, wildes Geklimper, massig Energie.“ Offenbar spielen sie auf Kinderinstrumenten. „Google uns doch mal“, steht in der letzten Zeile.

Ich wohne in Mitte und arbeite in Prenzlauer Berg. Jeden Tag fahre ich mit dem Fahrrad die gut zwei Kilometer lange Strecke zwischen meinen beiden Lebensmittelpunkten hin und zurück. Jeden Tag dieselben Schlenker, dieselben Ampelphasen, dieselben Bordsteinkanten. Jeden Tag warte ich an der Kreuzung, an der die Oderberger in die Choriner Straße mündet und die wiederum in die Schönhauser Allee. Ich stehe an der Ampel und lese, halb aus Langeweile, halb aus Neugier. Zettel, Plakate und Aufkleber, dutzendfach übereinander geschichtet, zusammengehalten nur von langen und kurzen Klebestreifen. Unordentlich, flatterhaft, formlos. Andererseits auch wunderschön, eine postmoderne Collage. Das Gesicht meiner Stadt. Man stelle sich all die Menschen und Lebensgeschichten dahinter vor, die sich zufällig hier an diesem Mast kreuzen…
Auf einmal habe ich Lust, all diese Telefonnummern anzurufen, Nachrichten an all diese E-Mail-Adressen zu schreiben: Wer seid ihr, was macht ihr, woher kommt ihr?

Mittwoch

Klaus Cornfield vom „Orchestre Miniature in the Park“ (OMP) – so heißt die Kinderinstrumentengruppe ohne Noten – schreibt binnen Minuten zurück. Wir verabreden ein Treffen nachmittags am Pfahl. Eigentlich, um irgendwo einen Kaffee zu trinken, aber dann hat keiner von uns beiden auch nur fünf Euro Bargeld in der Tasche. Pech, prekäres Freiberuflerschicksal, fällt der Latte Macchiato eben aus. Cornfield, graue, wuschelige Haare, modische Brille mit schwarzem Rand, sieht sehr nett, sehr gut gelaunt und nur ein bisschen berufsjugendlich aus. Natürlich duzen wir uns. Ich habe augenblicklich das Gefühl, hier steht das alte Kreuzberg vor mir, nur eben in Prenzlauer Berg. Ein bisschen in die Jahre gekommen, aber immer noch cool. Und absolut antikapitalistisch tiefenentspannt.

Der 50-Jährige war in den späten 80ern und frühen 90ern mit der Nürnberger Indie-Band Throw that Beat in the Garbage Can erfolgreich, sogar fast berühmt. Später gründete Cornfield in Köln eine Band namens Katze. Seitdem er in Berlin lebt, verdient er sein Geld als Comiczeichner. Musik macht er immer noch, „aber nur zum Spaß.“

Das Orchestre Miniature in the Park entstand vor sechs Jahren, in einem Park, auf dem kleinen Teutoburger Platz an der Fehrbelliner Straße, gleich hier um die Ecke. Am Anfang waren es ein paar Freunde, die auf einer Wiese saßen. „Wir wollten einfach schauen, was passiert.“ Und weil sich Klavier und Schlagzeug so schlecht in den Park schleppen lassen, blieb es bei kleinen, handlichen Instrumenten: Glockenspiel, Xylophon, Schellentrommel. Es kamen Ukulelen hinzu, Flöten, Banjos, Kinderklaviere. Das Orchester wuchs und wuchs. Mittlerweile treten die Musiker regelmäßig zusammen auf. „Die Leute sind immer total fasziniert, dass jemand aus so etwas Doofem, Kleinen, Bunten Musik macht“, sagt Cornfield. „Es klingt alles ein bisschen schief.“

Anfangs hat OMP nur bekannte Sommer-Sonne-Songs gecovert. Jetzt gibt es endlich die erste eigene Platte, selbst gemacht, selbst finanziert, selbst produziert. Deshalb die Aufkleber am Pfahl. 2500 Stück waren bestellt. Leider ist in der Druckerei was schiefgelaufen, jedenfalls hätte das, was am Ampelmast klebt, eigentlich nur die kleingedruckte Rückseite des Aufklebers werden sollen. Was soll’s, sagt Cornfield. „Ich hau sie einfach raus, ohne Rücksicht darauf, ob sie lange kleben bleiben.“ Aber ist das nicht total old school, Aufkleber im Stadtraum, macht man als Musiker heute nicht alles über Social Media? „Wir haben immer Aufkleber geklebt, auch zu der Zeit, als wir Leute bezahlen konnten, die das für uns machen“, sagt Cornfield. Überhaupt, mit dem Orchester wieder ganz von vorne anzufangen, schön sei das. „Man fühlt sich auf jeden Fall jung dadurch.“

Donnerstag

OMP hat Pech. Über Nacht wurde das sympathische Quatsch-Orchester von der Aufmerksamkeitskonkurrenz überklebt. Immerhin ist der Übeltäter transparent. „YRAL.TV“ steht da, sonst nichts. Im Netz finde ich eine Website mit eingebundenen Youtube-Videos, deren Sinn und Zweck sich mir nicht näher erklärt. Außerdem gibt es eine leere Facebook-Seite und ein Twitterprofil mit einer Handvoll Followern. Die Tweets lassen darauf schließen, dass hier irgendwas von irgendwem frisch programmiert wurde. Jetzt läuft offenbar die PR-Offensive an: „I just ordered stickers on flyeralarm“, steht da, „Now watching viral videos while waiting for them to arrive ;).“

Ein paar Tage später sitzt mir Daniel Seiler gegenüber. Er sieht aus wie ein junger Nerd und ist auch einer. Schmale Figur, weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt, ruhiges Auftreten, das nur auf den ersten Blick schüchtern wirkt, auf den zweiten angenehm selbstsicher. Den Aufkleber hat er an den Mast gepappt, als er von seiner Wohnung in Richtung Rosa-Luxemburg-Platz gelaufen ist, um japanische Nudeln essen zu gehen.

Nun denn: Jural TV oder Üral TV – oder wie spricht sich das überhaupt aus? Sanft und ohne die geringste Spur kosmopolitischer Überheblichkeit korrigiert Seiler: Der Name werde „viral“ ausgesprochen, mit englischem Zungenschlag natürlich. Und was genau findet man auf der Seite? „Die heißesten Videos aus aller Welt.“ Langsam und zum Mitschreiben erklärt er weiter: Yral.TV ist eine Webseite, auf der in Echtzeit die beliebtesten Netzfilmchen der Welt eingespeist werden. Die Seite funktioniert komplett datengetrieben, es gibt keine Redaktion im Hintergrund, die Videoauswahl basiert ausschließlich auf einer komplizierten Live-Analyse sozialer Netzwerke. „Uns interessiert, was die Leute in dieser Minute schauen.“ Ständig wird sich die Plattform, wenn sie erst mal richtig fertig ist, aktualisieren. So kriegt man immer genau das serviert, was in diesem Moment auch Tausende andere auf der ganzen Welt anklicken.

Die Idee ist noch taufrisch, erst vor ein paar Wochen haben Seiler und drei Freunde in Hamburg die Plattform gegründet. Ein Wochenende lang haben sie bei einem „Hackathon“, einem organisierten Programmiertreffen, gemeinsam konzipiert und entworfen. Alle Beteiligten sind zwischen 24 und 26 Jahre alt. Und sonst so, beruflich? „Wir sind Unternehmer, Freelancer, Studenten, ein bisschen von allem.“

Es ist nicht die erste Plattform von Daniel, Moritz, Tim und Tim. Sie haben es während des Studiums schon mal mit einer Essensverabredungs-Webseite versucht. Einer kocht und stellt dann Einladungen ins Netz: Soundso viele Plätze wären heute Abend noch frei an meinem Tisch. Die Seite wurde von den Nutzern leider nicht so richtig angenommen.

Yral.tv scheint vielversprechender zu sein. Kurz nach dem Hackathon durfte das Team seine Idee bei der Geschäftsführung von Hubert Burda Media präsentieren. Wie kommt man denn an so einen hochkarätigen Kontakt, frage ich verblüfft. „Wir haben früher schon für die gearbeitet“, sagt Seiler. Bei einem „Innovation Bootcamp“ haben sie „Rapid Prototyping“ für Burda gemacht – „da haben wir die Vorstände kennengelernt“. Die Wege sind kurz und die Türen offen, wenn man jung ist und sich mit dem nächsten heißen Scheiß im Internet auskennt.

Jetzt ist Yral.tv aber erst mal auf „Office-Suche“ in Berlin. „Wir wollen in den südlichen Prenzlauer Berg, wo auch viele andere Tech-Start-ups sitzen“, sagt Seiler. Südlicher Prenzlauer Berg: Meint er die Kastanienallee, die Gegend rund um die Eberswalder Straße? Genaue Straßennamen hat Seiler nicht parat. „Ich wohne noch nicht lange hier, erst seit März.“ Im Sommer werden auch die anderen Teammitglieder aus Süddeutschland herziehen. Warum nicht nach München, in die Nähe des Investors? Das sei nicht infrage gekommen, sagt Seiler. „Von den Menschen her ist Berlin das Silicon Valley Deutschlands, die Leute sind sehr offen.“

Bei dem Aufkleber hat er sich übrigens etwas gedacht: „Ich hatte die Idee mit der Transparenz. So kann man die überall drüberkleben – der Inhalt ergibt sich erst zusammen mit dem Hintergrund.“ Ein bisschen sei das auch eine Metapher fürs Fernsehen. „Man hat die Plattform, aber eigentlich schaust du durch die Plattform auf den Inhalt.“

Aufgeben ist keine Option

Huch, was ist denn da passiert? Übers Wochenende sind auffällig viele Masten entlang der Torstraße kahl. Wie sauber geputzt sehen sie aus, nur ein paar hartnäckige Kleberreste sind noch zu sehen. Oje, es wird doch jetzt keiner flächendeckend meinen Kiez reinigen, während ich mitten in der Recherche stecke?

Apropos: Wer säubert überhaupt Laternenmasten?

Dienstag

Anruf bei der BSR, Hotline der Abteilung Straßenreinigung. Sind Sie zufällig zuständig für vollgeklebte…? „Da muss ich mal kurz die Chefin fragen.“ Acht Sekunden später: „Nein, damit haben wir nichts zu tun.“ Ich soll mal beim Straßen- und Grünflächenamt nachfragen. Anruf bei der Straßenverkehrsbehörde Pankow, laut Internetseite „zuständig für die Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung des öffentlichen Straßenverkehrs“. Kurze Frage: Reißen Sie die Plakate und Zettel an Laternen und Ampeln ab? Nein, das ist nicht unsere Baustelle, sagt der Sachbearbeiter. Er erklärt mir: Die Straßenverkehrsbehörde ordnet zwar die Aufstellung der Verkehrszeichen an. Wenn sie aber erst mal stehen, sind andere zuständig.

Schließlich finde ich folgenden Hinweis: „Für die öffentliche Beleuchtung ist die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, Abteilung X – Tiefbau verantwortlich.“ Für „den Betrieb, die Wartung, die Instandhaltung und die Schadensbeseitigung der öffentlichen Beleuchtung einschließlich der beleuchteten Verkehrszeichen“ hat Berlin einen externen Dienstleister engagiert, die „Vattenfall Europe Netzservice GmbH“.

Also macht Vattenfall die Masten sauber. Nachfrage bei Pressesprecherin Julia Klausch. Fröhlicher Plausch am Telefon, meine Fragen soll ich dann aber doch lieber noch mal schriftlich einreichen. Nach sechs Stunden sind die zitierfähigen Antworten da: „Das Entfernen von Aufklebern, Plakaten oder Zetteln erfolgt regelmäßig im Zuge der Korrosionsschutzmaßnahmen (i.d.R. beim Anstrich der Maste). Falls die technische Funktion der Beleuchtungsanlage beeinträchtigt ist, findet die Entfernung unverzüglich statt.“ Und was ist mit den Ampeln? „Für die Berliner Lichtsignalanlagen ist die Firma Alliander zuständig.“

Wieder was gelernt: Ampelmasten sind nicht gleich Laternenmasten. Kontaktaufnahme mit dem nächsten Unternehmen. Die deutsche Alliander AG, hundertprozentige Tochter der niederländischen Alliander NV, betreibt „Strom- und Gasnetze sowie öffentliche Beleuchtung und Lichtsignalanlagen“. In Berlin managt man seit 2006 „im Rahmen eines für die Stadt attraktiven Private-Partnership-Modells“ alle Verkehrsampeln. Um Presseanfragen kümmert sich die Agentur Dr. Zitelmann PB, laut Selbstbeschreibung „das führende Beratungsunternehmen in Deutschland für strategische Positionierung und Kommunikation von Immobilien- und Fondsgesellschaften“. Interessant – heißt das, Alliander schielt nach mehr als nach den Berliner Ampeln? Der Sache könnte ich vielleicht ein anderes Mal auf den Grund gehen, diesmal will ich nur ein paar harmlose Antworten zum Thema Zettelchen. Nach zwei Tagen meldet sich ein promovierter Agenturmitarbeiter zurück. Leider könne er keine meiner Fragen beantworten. Ich soll es doch mal bei Frau Augenstein versuchen, der Staatssekretärin und Sprecherin des Berliner Senats. Ihr Ernst?, frage ich.

Aber Aufgeben ist keine Option. Ich schreibe an die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt. Nach drei Tagen meldet sich deren Sprecherin Petra Rohland und diktiert mir, zack, zack, die Fakten per Telefon: Ampelanlagen gibt es rund 2100 in Berlin, Leuchten rund 220.000. Für Ampelanlagen gilt: „Die Beklebungen werden nur entfernt, wenn es die Sicherheit gefährdet. Zum Beispiel, wenn das Leuchtfeld zugeklebt ist. Die übrigen Beklebungen werden nicht regulär entfernt.“ Ähnlich sieht es aus bei der Straßenbeleuchtung: „Wilde Plakate und Aufkleber werden nur entfernt, wenn planmäßige Schutzanstriche durchgeführt werden.“ Oder bei Reparaturen. Planmäßige Schutzanstriche finden alle zehn Jahre statt. In der Zwischenzeit darf da hängen, was will. Da ist Berlin großzügig.

Freitag

Worüber ich mich seit Jahren wundere: Warum sehen eigentlich alle Handwerkerzettel gleich aus? Format DIN A6, farbiges Papier, dazu Textbausteine, die erstaunlich frei von Schreibfehlern sind: „Renovierungen aller Art: Tapezieren, Sperrmüll entsorgen, Entrümpelung. Sauber, schnell & preiswert“. Immer Handynummern, nie Firmennamen. Haben alle Berliner Schwarzarbeiter denselben Grafikdesigner? Oder gibt es im Netz digitale Vorlagen?

Entrümplungsanruf Nummer eins, Freitagmittag. Guten Tag, Journalistin, Tagesspiegel, ich schreibe über diese Zettel. Der Mann am anderen Ende lacht laut. „Ich bin auch Journalist, aber aus Bulgarien.“ Ob ich ihm ein paar Fragen…? Nein, jetzt nicht. „Ich bin grade auf der Baustelle.“ Lieber am Wochenende.

Entrümplungsanruf Nummer zwei, Sonntag, früher Nachmittag. Hallo, ich noch mal, passt es jetzt? „Guck doch mal auf die Uhr!“, sagt der Mann, wieder hörbar belustigt. Er sei am Arbeiten, beziehungsweise gerade auf dem Weg nach Zehlendorf. Ich soll mich nachher noch mal melden, ab sechs.

Entrümplungsanruf Nummer drei, vier, fünf, sechs und sieben, Sonntagabend bis Montagfrüh. Keiner hebt ab. Irgendwann ist das Handy ausgestellt. Der bulgarische Journalist hat es sich offenbar anders überlegt.

Mittwoch

Muss ich wohl andere Experten befragen. Zu Besuch bei Copy Clara in der Tucholskystraße in Mitte. Wolf Jaeschke arbeitet seit 20 Jahren hier, was er nicht über Kopien weiß, weiß niemand. Kommen zu Ihnen auch Leute, die Zettel für Masten produzieren? „Ja, aber mittlerweile nicht mehr so viele wie früher, vielleicht zehn in der Woche.“ Und kopieren Sie hier auch diese typischen Handwerkerzettel, die in der ganzen Stadt hängen? Nein, die werden im digitalen Offsetdruck gemacht, das ist viel billiger. Und warum sehen die alle gleich aus? Vorgefertigte Produktionsstufen, erklärt Jaeschke: große Druckmaschinen, Zehntausender-Auflage.

Der Durchschnittszettel des Durchschnittsberliners, der zum Kopieren in einen Copyshop geht, fällt anders aus: Format DIN A5, gerne bunt, Stückzahl höchstens im unteren dreistelligen Bereich. Angeboten werden Nachhilfeunterricht, Gesangsstunden, wissenschaftliche Schreibarbeiten. Jaeschkes Beobachtungen: Gesangsannoncen sind oft per Hand gestaltet, die Ghostwriter dagegen bevorzugen eine sachlich gehaltene Kopiervorlage in Schwarz-Weiß. Bei entlaufenen Tieren dagegen machen die Leute immer (!) Farbkopien: „Da werden keine Kosten und Mühen gescheut.“

"Schöne blonde Frau! Wo bist du?"

In den letzten Tagen hat mein Mast deutlich sein Antlitz verändert. Die oberste Schicht ist weg, ein großes Plakat wurde abgerissen oder ist verweht. Darunter ist das verblichene Alte zum Vorschein gekommen. Ich fingere an den Zettelfragmenten herum. Das hier klingt interessant: „Kostenlose Lie… Boxatwo…“. Große, gut lesbare 0800-Nummer.

Freitag

Gerrit Reinders freut sich mächtig, dass ich mich mit ihm unterhalten will. Überhaupt freut er sich kolossal. Über sein neues Leben in Berlin, seine Unternehmensgründung, seine Aufträge. Es ist Freitag, viertel nach neun, wir sind in der Oranienstraße auf eine Apfelschorle verabredet. Am Straßenrand winden sich dicke Schmerbäuche um die Laternen. Hunderte Plakate übereinander haben aus einst schlanken Masten dralle Skulpturen gemacht. In Kreuzberg wird noch geklotzt, nicht gekleckert. Dagegen wirkt die Ausstattung meiner Mitte-Masten spärlich und zahm.

Reinders ist 30 Jahre alt und kommt aus Amsterdam. Früher hat er als Wirtschaftsprüfer gearbeitet, sagt er. „War schön – aber das hier ist besser.“ Vor einem Jahr hat er die Boxatwork GmbH gegründet. Die Idee ist simpel: In Berlin ziehen ständig tausende Menschen um. Die meisten von ihnen hassen den Aufwand, der damit verbunden ist. Boxatwork verleiht große, stabile Plastikumzugskisten, die sich zigfach wiederverwenden lassen. Die Boxen werden geliefert und wieder abgeholt. Und wer will, kann sie samt überflüssigem Hausrat auch gleich einlagern lassen. Drei Investoren sind mit im Boot, zwei holländische, ein deutscher. Eine Million Euro haben sie in das Unternehmen gesteckt, damit soll Reinders den Berliner Umzugsmarkt umkrempeln. Mit Kampfpreisen von 1,49 Euro pro Kiste gelingt das schon ganz gut: zwölf Festangestellte, Tendenz steigend.

Für seine Offline-Marketingstrategie hat das Unternehmen Anfang 2015 rund 20 000 Euro ausgegeben. 15 000 Euro gingen für die Plakatierung von Großflächen im Stadtgebiet drauf. 3500 Euro kostete es, 5000 kleinere Plakate und 5000 Flyer verteilen zu lassen. Die Straßenzüge mit den Ampel- und Laternenmasten hat Reinders gezielt bei einem Dienstleister gebucht. Dass die Werbung wahrgenommen wurde, konnte er bald an Klickzahlen und Anfragen ablesen. Seit Frühling sind die Aufträge durch die Decke gegangen. Das erste Lager am Stadtrand ist schon voll. „Jetzt wachsen wir nach Hamburg.“ Dependancen in Köln und München sind ebenfalls geplant.

Montag

Irgendwie deprimiert mich der Pfahl heute. Jeder will ein Produkt verkaufen, einen Kurs bewerben, ein Event promoten, eine Dienstleistung anbieten. Verständlich. Aber wo bleibt der Rest, wo bleiben Kunst, Irritation, Gefühle? Vor einigen Wochen war mir an einem anderen Pfahl vor dem Frannz Club in der Kulturbrauerei ein Zettel aufgefallen. Keine Copyshop-Ware, sondern ein Unikat. Selbst gemalte, knubbelige Comic-Schrift, die Innenräume der Buchstaben liebevoll mit Tupfen und Strichen versehen: „Schöne Blonde Frau! Wo bist du? Wir standen um 3 Uhr zusammen auf der Treppe… Du hast gelächelt. Wir haben 1 mal getanzt. Ich würde dich gerne wiedersehen. Ernstgemeinte Zuschriften an...“

Das Blatt, mit einer Klarsichtfolie vor Regen geschützt, hing nur wenige Tage. Aber wie viele Passantinnen mögen davorgestanden und sich beim Lesen einen Augenblick lang vorgestellt haben, sie seien gemeint? Ich schicke eine ernstgemeinte Zuschrift an die angegebene E-Mail-Adresse: „Was wurde eigentlich damals aus Ihrer Suche? Konnten Sie die Frau wiederfinden? Oder kam die Liebe auf anderen Wegen zu Ihnen?“ Keine Antwort.

Donnerstag

Vielleicht ist es nur Zufall, dass auch Wim Westerveld aus Holland kommt. Vielleicht auch nicht. In Amsterdam, so hatte es mir Unternehmensgründer Reinders erklärt, sind Aufkleber, private Zettel und wilde Plakatierung im öffentlichen Raum nicht gestattet. Wer auf sich aufmerksam machen will, bedruckt Schutzhüllen für Fahrradsattel. Alles andere wird von den Behörden nicht geduldet. Westerveld, Professor für Typografie und Schriftgestaltung an der Kunsthochschule Weißensee, erzählt Ähnliches von Den Haag: „Da ist es ganz sauber und ordentlich, fast wie in der Schweiz.“

In den letzten Monaten hat er mit einer Gruppe Studierender den öffentlichen Raum in Berlin untersucht. „Die Stadt ist ein hybrider semiotischer Kosmos“, stand in der Semesterankündigung. Der Professor, ungefähr Mitte 50, groß, schlaksig, steht jetzt mit mir in der Oderberger Straße, gemeinsam lassen wir die Oberflächen auf uns wirken. Überall Farbe, überall Schrift: Die Tafel vor dem Café mit den liebevoll gemalten Kreidebuchstaben. Der schwarze Fahrradständer mit Cola-Reklame. Die Graffitis und Tags auf den Hauswänden gegenüber. Die Logos auf dem Baucontainer vor der Schwimmbadbaustelle. Der Stromkasten mit den Konzertplakaten. Die kleinen Läden gegenüber mit ihren Schaufenstern und Leuchtkästen. „Die Stadt spricht nicht nur durch ihre Architektur“, sagt Westerveld. Im Gegenteil: „Die Fassaden verschwinden hinter der Masse der Beschriftungen, die Architektur tritt zurück.“

Ich will mich mit ihm über die Litfaßsäule unterhalten, diese Berliner Erfindung von 1854. Damals bekam der Drucker Ernst Litfaß die Genehmigung, neuartige Plakatsäulen aufzustellen. Man wollte damit der wilden Plakatierung Einhalt gebieten. Litfaß entwickelte daraus ein Geschäftsmodell, das Politik und Wirtschaft gleichermaßen gefiel. Werbetreibende hatten nun die Garantie, dass ihre Plakate über bestimmte Zeiträume zu sehen waren, ohne überklebt zu werden. Die Behörden wiederum konnten die Inhalte der Verlautbarungen vorab bequem kontrollieren und zensieren.

Frage an den Professor: Könnte man sagen, dass mit der Litfaßsäule eine Disziplinierung und Kommerzialisierung des öffentlichen Raums stattgefunden hat? Und dass deshalb die Zettel und Aufkleber an meinem Pfahl auch als eine Art subversiver Rückeroberung der Stadt gelesen werden können? Den Gedanken findet Westerveld durchaus interessant, aber meine These ist ihm eine Spur zu steil. „Die Beklebung wird ja zugelassen. Wenn es ein subversiver Akt sein sollte, müsste man dort kleben, wo es wirklich irritiert oder wehtut.“

Auch am Pfahl gelten Regeln

Dann erzählt er von Walther Ruttmanns Dokumentarfilm „Berlin – die Sinfonie der Großstadt“ von 1927, den er neulich seinen Studenten gezeigt hat. „Man sieht darin, wie viel Kommunikation damals auf der Straße stattfand. Auf den Litfaßsäulen wurden Nachrichten veröffentlicht. Die Menschen standen davor und lasen.“ Diese Funktion ist inzwischen in den Hintergrund gerückt. Stattdessen verschwimmen unzählige Botschaften und Bilder zu einer Gesamtkulisse. Wer durch Berlin läuft, badet in einem Meer aus Schrifttypen, Mitteilungen und Zeichen. Viele Bewohner und Touristen mögen das, weil es sich nach Vielfalt anfühlt, nach Kreativität und Toleranz

Freitag

Endlich, die erste Frau! Bisher haben nur Männer auf meine Anrufe und Mails reagiert, Frauen reagierten zögerlicher. Kathrin Eckhorn wird mir gleich erklären, warum das so ist. Vorher muss ich ihr noch ein paar Komplimente machen, schließlich ist sie so was wie die ungekrönte Zettel-Klebe-Königin von Prenzlauer Berg. Ich weiß nicht, wie oft ich in den letzten Jahren ihre Annonce gesehen habe. Immer das gleiche Querformat, immer der gleiche Text: „Zeichnen steht im Vordergrund; jedoch werden andere Techniken auch unterstützt, bzw. können ausprobiert werden. Eine Gruppen-Bildbesprechung am Ende der Stunde wird von mir angeleitet.“ Dazu ein Foto und eine Kurzbiografie: Kunststudium, seit 1986 freischaffende Künstlerin, „zahlreiche Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen“.

Mit anderen Worten: Seit 30 Jahren hält sich Kathrin Eckhorn als Künstlerin in Berlin über Wasser. Das muss man auch erst mal schaffen. „Ich bin zwischendurch auch putzen gegangen“, sagt die 49-Jährige. Meist aber hat sie von Auftragsarbeiten gelebt. Sie ist als Zeichnerin auf Schiffen oder Messen aufgetreten, „oder ich habe Tiere gemalt, auf Kinder- und Familienfesten gezeichnet“. Seit drei Jahren unterrichtet sie Laien in der Kunst des Porträtzeichnens, immer dienstags im Kunsthaus Prenzlauer Berg. Es kommen die unterschiedlichsten Leute, sagt sie, „vom Kinderarzt bis zur Frisörin, von der Schauspielerin bis zum Taxifahrer“. Damit dem Kurs nie die Teilnehmer ausgehen, klebt sie ständig und überall. Oft mehrere Stunden am Stück, oft mehrmals in der Woche.

„Es gibt interne Regeln, die man beachten sollte“, erklärt sie mir. Zum Beispiel: Nicht direkt mittig auf andere Zettel draufkleben, wenn drum herum noch Platz ist. „Damit macht man sich echt unbeliebt.“ Sie hat schon heftige Wortwechsel erlebt, Streit und Diskussionen direkt am Mast. Vor allem mit den Entrümplern. „Die kleben überall drüber“, sagt Eckhorn.

Systematisch, Straße um Straße, geht sie schon lange nicht mehr vor. Eher nach Intuition. „Man hat es irgendwann im Gefühl, wo am meisten abgerissen oder am schnellsten überklebt wird.“ Manche Straßen kann man sich sowieso sparen, sagt sie. Rund um den Kollwitzplatz gebe es Anwohner, die sehr auf Sauberkeit achten. „Sie patrouillieren täglich mit Müllsäcken und schneiden, kratzen und reißen alles ab, was an den Laternen und Ampeln hängt.“ Das seien aber nicht die zugezogenen Eigentumswohnungsbesitzer oder die Muttis mit den Kinderwagen, sagt Eckhorn, eher pensionierte Altbewohner. „Ich musste mir schon anhören, dass es das in der DDR nicht gegeben hat.“

Wer es trotz mündlicher Einschüchterung und Beschimpfung wagt, weiter zu kleben, kriegt auch mal eine drohende E-Mail oder einen obszönen Anruf. Auch das hat Eckhorn schon erlebt. „Deshalb sind viele Frauen so vorsichtig.“ Den Kollwitzplatz meidet sie mittlerweile. Lieber geht sie dorthin, wo sie freundliche Akzeptanz spürt. Wo sie angelächelt und angequatscht wird, wenn sie mit Tasche und Tesafilm unterwegs ist. „Ich versuche, mich auf das Positive zu konzentrieren.“

Ob sie diese Woche auch noch unterwegs sein wird, frage ich zum Abschied. „Nein, jetzt ist Sommerpause“, sagt sie. Da sind sowieso nur Touristen in der Stadt, da lohnt das Zettelaufhängen nicht. Für die Profis geht die Klebesaison erst wieder im September los.

Dienstag

Das erklärt, warum sich seit Tagen kaum noch was tut an meinem Pfahl. Und plötzlich sehe ich auch, was Eckhorn meinte: Es herrscht ein heimlicher Krieg in der Stadt. Zwischen denen, die lebendige Fülle lieben und denen, die elegante Leere bevorzugen. Entlang der Friedrichstraße, wo sich die Geschäfte mit den Edelmarken aneinander reihen: kein einziger Zettel, alle Laternen sauber. Dasselbe fällt mir in der Grunewaldstraße in Steglitz auf. Oder am Koppenplatz in Mitte.

Ich sehe mittlerweile nur noch Nachrichten, egal wohin ich schaue. Die ganze Stadt eine Pinnwand. An unserer Eingangstür informiert die Kulturbrauerei ihre Nachbarn über eine Veranstaltung mit großer Leinwand und bittet um „Verständnis und Nachsicht“. An der Brücke über den U-Bahn-Gleisen hängen Plakate auf Sperrholzplatten, daneben hat eine Weinbar einen handgeschriebenen Aufsteller angebunden. Zwei Papiereulen zieren die steinernen Brückenpfeiler. An meinem Mast ist wenig los, nur ein Zettel für Drechselkurse ist neu dazugekommen. Er ist hübsch gezeichnet und einladend formuliert: „Am Ende hält der Drechsel-Lehrling seine selbst gedrechselte Schale in der Hand und darf sie selbstverständlich mit nach Hause nehmen.“ An der Hauswand der Oderberger Straße 61 erinnert ein Plexiglasschild an Dietrich Bonhoeffer. Im Kopierladen Ecke Kastanienallee quillt die Korkwand über: Tangokurse, Ayurveda, Yogalehrer-Ausbildung, Wieder zu sich finden, Körper- und Bewegungsexplorationen, Opernsänger gibt Gesangsunterricht.

Im Kopiergerät Nummer 12 hat der Kunde vor mir seine Kopiervorlage vergessen. Ein DIN-A4-Zettel mit Farbfoto, darauf rote und schwarze Schrift. „Achtung!!!! Kriegstreiber, Grabschänder, Friedensheuchler in ihrer Nachbarschaft!!!“ Abgebildet ist der Aktionskünstler Philipp Ruch, dessen „Zentrum für politische Schönheit“ im Juni mit der Beisetzung ertrunkener Flüchtlinge die Stadt polarisierte. Ruchs Büro liegt um die Ecke. 29 Cent pro Farbkopie hat sich ein aufgebrachter Nachbar die Handzettel kosten lassen. Der Copyshop-Angestellte nimmt die vergessene Vorlage entgegen und lässt sie dezent hinter dem Tresen verschwinden.

Auf dem Rückweg ins Büro halte ich an den umliegenden Laternen und Ampeln Ausschau nach den Diffamierungszetteln. Noch hängen sie nicht. Dafür fehlt beim Drechselkursaushang schon der erste Abreißstreifen.

Dieser Text erschien zunächst in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.

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