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Gewaltverbrechen: Die gefühlte Sicherheit in Berlin nimmt ab

Der totgetretene Jonny K. vom Alexanderplatz, die Schüsse in Schöneberg, der halb erdrosselte Hertha-Fan. Trotzdem sagen die Zahlen: Die Stadt ist sicher wie nie. Sind wir nur hysterisch? Nein, Zahlen sind einfach nicht alles.

Beim Wetter hat man es längst akzeptiert: Die am Thermometer ablesbare Temperatur und die empfundene stimmen oft nicht überein. Weil der Empfindungshaushalt des Menschen komplex ist und von verschiedenen Faktoren beeinflusst wird. Man hat außerdem akzeptiert, dass den Menschen die gemessene Temperatur weniger interessiert als die gefühlte, denn auf Letztere muss er sich einstellen, gegen die wappnet er sich mit entsprechender Kleidung.

Auch bei der Sicherheit gibt es diesen Zweiklang aus gemessener und gefühlter Lage. Aber hier wird das nicht akzeptiert.

Dem Gefühl, Gewalt, Gewaltbereitschaft, Brutalität breiteten sich aus wie ein Geschwür in dieser Stadt, wird allenthalben die Statistik entgegengehalten. Die ablesbare Zahl. 35 Mord- und Tötungsdelikte im Jahr 2011, die niedrigste Zahl seit 1993. Verrohung? Nicht messbar. Entwicklungstendenz: eindeutig positiv.

Die Statistik also sagt: Friert nicht! Es ist gar nicht so kalt. Und trotzdem will man sich den Schal vors Gesicht ziehen und sich schützen vor dem eisigen Wind – vor Verbrechen im öffentlichen Raum.

Der totgeschlagene Jonny K. vom Alexanderplatz. Die Schüsse auf einen 22-Jährigen in Schöneberg. Der behinderte Hertha-Fan, halb erdrosselt vorm S-Bahnhof Olympiastadion. Im Jahr zuvor die Frustattacke von Torben P. auf einen Handwerker im U-Bahnhof Friedrichstraße. Der aus einer Laune heraus ins Koma geprügelte 30-Jährige vom U-Bahnhof Lichtenberg.

Sicher: Das sind nur fünf Vorfälle. Sie sind schrecklich, aber sie sind nur fünf. Und das in einer Stadt, in der 3,5 Millionen Menschen leben. 5 zu 3.500.000 – das ist ja quasi nichts. Kein Grund also für gefühlte Unsicherheit?

Die gefühlte Kriminalitätstemperatur ist gestiegen

Das scheint die Botschaft der Zahlen zu sein. Auch der Kriminologe Christian Pfeiffer spricht von dem Zweiklang aus Zahlen und Gefühl. Die „gefühlte Kriminalitätstemperatur“, so formuliert er, sei „jenseits aller Begründung durch Fakten stark angestiegen“. Dafür trage vor allem das Fernsehen die Verantwortung. Inzwischen kann man im Fernsehen bewegte Bilder davon sehen, wie Menschen auf Berliner U-Bahnhöfen angegriffen und zusammengeschlagen werden, wie die Angegriffenen fallen, wie die Angreifer ausholen, um Richtung Kopf zuzutreten.

Vielleicht ist an der Theorie etwas dran. Jeder ist schon mal auf so einem Bahnhof gewesen und hat entsprechend wenig Mühe, sich vorzustellen, er selbst wäre derjenige, der das Pech hätte, den zum Wahnsinn bereiten Schlägern zu begegnen. Es ist ja gerade das Wahllose der Attacken, das dazu führt, dass sie das Sicherheitsgefühl so über die Maßen erschüttern; die Tatsache, dass es offenbar egal ist, wer verprügelt wird, Hauptsache, irgendeiner muss dran glauben. Und dann fängt man, aus berechtigtem Interesse am Selbstschutz, an, lieber zu vielen Leute aus dem Weg zu gehen, als dem einen, der Ärger sucht und keine Hemmungen hat, dann eben nicht. Denn unbestreitbar ist der Preis viel zu hoch, der für das Am-falschen-Ort-zur-falschen-Zeit-Sein zu zahlen ist. Es kann einen das Leben kosten. Das ist die gefühlte Sicherheitslage in dieser Stadt.

Tagesspiegel-Redakteurin Ariane Bemmer.
Tagesspiegel-Redakteurin Ariane Bemmer.

© Mike Wolff

Warum dem nicht Rechnung tragen, warum solche Gefühle nicht ernst nehmen? Warum nicht sagen: Die Statistik sagt zwar dies, aber die Menschen, unsere Bürger, erleben auch etwas anderes? Die erleben ein wachsendes Gefühl von Bedrohung. Das rührt bis an den Kern der Gesellschaft. Niemand will, dass das, was Jonny K. passiert ist, sich noch ein einziges Mal wiederholt in dieser Stadt. Dem kann und muss man mit einer Gegengefühlsoffensive begegnen: mit mehr Personal an kritischen Orten, mit Polizisten, die Streife gehen, mit Sicherheitspersonal auf Bahnhöfen. Dem begegnet man nicht mit Verweisen auf Statistiken. Davon abgesehen: Wie viele Fälle von Mord und Totschlag wären denn akzeptabel?

Die gefühlte Sicherheit in dieser Stadt nimmt ab. Das ist keine gestörte Wahrnehmung von ein paar labilen Angsthasen. Das ist ernst zu nehmen. Der Deutsche Wetterdienst hat dereinst reagiert. Die Politik sollte das auch tun.

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