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Berlin: Gisela Kurzhals

Sie war die letzte Mieterin des Hauses an der Sonnenallee

Zwanzig Jahre nach der Geburt ihrer älteren Schwester kam Gisela Engel auf die Welt, eine Hausgeburt in der Sonnenallee Nummer 47. Ihre Eltern waren die ersten Mieter in dem neu errichteten Haus, das vorne großbürgerliche Wohnungen mit Zentralheizung und hinten Fabriken beherbergte.

Der Vater war Amtmann, zuständig für Soziales in Neukölln. Manchmal nahm er sein Töchterlein mit, die Armen besuchen. Beeindruckt war sie von dem Elend, mehr noch aber von dem schwarzafrikanischen Mann, der ihrem Vater für die Sicherheit an die Seite gestellt wurde.

Gisela Engel wollte es ähnlich halten wie der Vater: fürsorgerisch tätig sein und im Vorderhaus wohnen. Sie beschloss, Medizin zu studieren. Doch schon nach zwei Semestern wurde sie in die Forschungsabteilung der Henschel-Flugzeugwerke verpflichtet. Über die Berechnungen, die sie dort erstellte, wollte sie später nicht sprechen. Es ging um die V2-Raketen, Hitlers „Wunderwaffe“.

Ein hübsches Mädchen war sie, bedacht auf ihre Erscheinung. Gepflegte, lackierte Fingernägel, gut sitzende Kleider von Qualität, langes, dauergewelltes Haar.

In den Laboren der Henschel-Werke lernte sie einen jungen Chemiker kennen, in den sie sich verliebte. Auch das war etwas, worüber später nicht gesprochen wurde: Was für Chemikalien er herstellte, und zu welchem Zwecke.

Auf der Basis verschiedener Patente an chemischen Erzeugnissen, die Gisela Engels Geliebter angemeldet hatte, eröffneten sie nach dem Krieg eine Kosmetikfabrik in Wiesbaden. Die Fabrik bescherte eine sorglose Existenz, die in dem Moment endete, als Gisela verkündete: Ich bin schwanger.

Ein Kind war nicht vorgesehen in den Lebensplänen des Chemikers. So kam der Tag, an dem sie mit ihrem sechs Monate alten Jungen im Arm wieder an der Wohnungstür in der Sonnenallee 47 klingelte.

Die Mutter, inzwischen verwitwet, war untröstlich. Ein illegitimer Enkel, eine stigmatisierte Tochter. Die große Schwester vermittelte, Gisela durfte wieder einziehen. Während ihre Mutter den Haushalt besorgte, verdiente Gisela Geld, erst in einer Rollo-Fabrik, dann in einer Trikot-Fabrik und ab 1953 als Arzthelferin.

Schaute der Sohn nach der Schule in der Praxis vorbei, fand er seine Mutter eifrig tippend hinter ihrer Schreibmaschine. Von den Patienten wurde sie freudig gegrüßt. Sie kannte die meisten länger und besser als der jeweils amtierende Arzt, denn die Doktoren kamen und gingen. Erst als sie 70 Jahre alt war, räumte sie ihren Arbeitsplatz.

Sie war eine jener Frauen, an denen die Chefs Fleiß und Zuverlässigkeit lobten. Eine von denen, die dankbar dafür waren, überhaupt einen Platz gefunden zu haben. Nur ganz selten und nur im vertrauten Kreis sprach sie davon, wie gerne sie selber Ärztin geworden wäre.

Es lief also alles in geordneten Bahnen, nur der nackte Ringfinger der Tochter ließ Giselas Mutter noch lange kummervoll aufseufzen.

Es war der Sohn, der die Sache in die Hand nahm. Wie so oft am Sonntag war er mit seiner Mutter im Strandbad Wannsee, als er im Strandkorb gegenüber einen einsamen Herrn mit Sohn erspähte. Er begann mit dem Jungen zu spielen, überredete dann dessen Vater zu einer gemeinsamen Paddeltour und holte seine Mutter an Bord. Es dauerte nicht lange, bis das Boot kenterte und Giselas Armbanduhr im sumpfgrünen Wannsee-Wasser versank. Der geschiedene Kaufmann Alfred Kurzhals ergriff die Gelegenheit beim Schopfe, klingelte ein paar Tage später beim Fräulein Engel und überreichte ihr eine neue, goldene Uhr.

Gisela Engel war überzeugt und machte bald darauf ihr illegitimes Engelchen zu einem legitimen Kurzhals. Der Namensstifter zog zu ihnen in die Sonnenallee Nr. 47 – nachdem er in der Diele eine Hausbar eingebaut hatte für die Bewirtung seiner Geschäftspartner.

Ein neues Leben begann. Ein Leben, in dem das Ehepaar Kurzhals im Bauch eines Südamerika-Frachters mit dem Kapitän und den ersten Offizieren tafelte. Ein Leben auf Bällen unterm Funkturm, im Hilton- und im Palace-Hotel, angetan mit teuren Kleidern. Ein Leben in der ersten Reihe der Deutschen Oper und des Schiller-Theaters.

Obwohl im Grunde ihres Wesens freigeistiger als er, passte Gisela ihre Ansichten ganz ihrem konservativen Ehemann an. Dankbar dafür, überhaupt geliebt und geheiratet zu sein, begehrte sie nur selten auf, auch dagegen nicht, dass er die Briefe des Chemikers abfing, der seinen Sohn kennenlernen wollte.

Doch auch als Frau Kurzhals blieb sie die, die morgens als Erste die Arztpraxis aufschloss, die nie krank wurde, die sich um ihre alte Mutter kümmerte und abends dem Sohn das Mittagessen für den nächsten Tag vorkochte.

Die Fabriken in den Hinterhöfen der Sonnenallee 47 wurden in ein Senioren-Pflegeheim umgebaut. Wo der Hausmeister früher seine Tauben- und Kaninchenzucht untergebracht hatte, befand sich jetzt eine Grünfläche für die Heimbewohner. Gisela Kurzhals war die letzte Mieterin des Hauses. Dann wurde auch ihre Wohnung von dem Pflegeheim übernommen, mitsamt der Bewohnerin. Sie starb direkt neben ihrem Geburtszimmer. Anne Jelena Schulte

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