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Berlin: Gisela Stepponat (Geb. 1917)

Ein wenig Glück nur, das musste es doch geben. Also los!

Ilka, die Enkeltochter, blättert in zwei schweren Bänden, die Seiten mit der Maschine beschrieben. Das Leben der Großmutter.

Als Gisela ein Kind war, gab es noch diese Dachböden voller Geheimnisse. Eines Tages, vielleicht hatten sie unerlaubt Kekse aus der Vorratskammer genommen, wurden Gisela und ihre Geschwister auf den Dachboden der Scheune gesperrt. Hier wird euch euer Übermut schon vergehen, sagte der Vater und verriegelte die Tür.

Die Kinder horchten auf die Geräusche von draußen, Hufschlag, Räderrollen, und sahen sich um. In einer dämmrigen Ecke entdeckten sie ein paar verstaubte Kisten, darin samtene Röcke, Jacken aus Taft, Florentiner Hüte. Sie zogen die viel zu großen Kleider an, stolperten zum einzigen Fenster und boten den im Hof pfeifenden und johlenden Landarbeitern ein kleines Theaterprogramm. Bis die Tür des Dachbodens aufgerissen wurde und der Vater im Raum stand.

Giselas Vater war der Verwalter des Gutes in Bärenklau, einem Dorf im Oderbruch, beschäftigt von einer jüdischen Siedlungsgesellschaft. Wenn er über den Hof ging und Anweisungen erteilte, glich er eher dem Gutsbesitzer als einem Angestellten.

Als Gisela ein Kind war, gab es wenig Spielzeug. Dafür Wiesen, Verstecke hoch oben in alten Kirschbäumen, weite Himmel. Gisela rannte über die Feldwege und Lichtungen, tat die entstandenen Schrammen an Armen und Knien mit lässiger Handbewegung ab, spielte mit ihrem Bruder Fußball im 14 Meter langen Flur des Gutshauses und ahnte nicht, welches Unglück einmal möglich sein würde.

Die Kindheitstage gingen vorüber. Gisela besuchte nach der Schule einen Handelslehrgang, stand jeden Morgen um vier auf, molk die Kühe, fuhr dann ins Büro. Auf den Feldwegen begegneten ihr Männer mit Einberufungsbefehlen in den Taschen. Dem Vater gestattete man nur noch, einen winzigen Teil des Gutes zu verwalten, seine Arbeitgeber waren nicht blond und blauäugig genug. Menschen verschwanden. Und gleichzeitig, für einen Moment, geschah etwas Schönes: Gisela begegnete Günter. Die große Liebe. Bald kamen Elke und Eike zur Welt. Günter aber musste fort, wie die anderen Männer. In einer ruhigen Nacht, kurz vor Leningrad trat er auf eine Mine.

Auf den Feldwegen liefen wieder Männer, viel weniger jetzt. Sie kehrten heim. Die Menschen begannen, den Schutt wegzuräumen. Versuchten, ein wenig Brot zu besorgen. Gisela brauchte Trockenmilch für ihre kleine Tochter Elke. Kurt, ein Witwer mit zwei Kindern, gab ihr etwas von seiner Ration ab. 1948 heirateten Gisela und Kurt. Pragmatismus war überlebenswichtig in jener Zeit. Nur verheiratet hatte man das Recht, eine größere Wohnung zu beziehen. Gisela verließ Bärenklau und ging nach Berlin. Eine neue Familie, ein neues Leben.

1949 erkrankte Elke an Scharlach. Sie kam ins Krankenhaus. Ihr kleiner Körper kämpfte. Froh sagte eine Schwester zu Gisela: „Sie ist über den Berg. Noch drei Tage, dann dürfen sie ihre Tochter abholen.“ Am folgenden Morgen starb sie.

1950 wurde Rolf Peter geboren.

1955 verunglückte Kurt auf dem Fahrrad und starb.

Gisela war kein Kind mehr, wusste jetzt, welches Unglück möglich war. Doch ein wenig Glück nur, das musste es doch geben! Also los!

Wenn sie am Abend nach Hause kam, hockte sie sich zu ihren Söhnen auf den Wohnzimmerboden, auf dem die Jungen ihre Eisenbahn aufgebaut hatten und spielte mit ihnen, ließ die Züge rasanter noch als die Jungen über die grünen Papphügel fahren. Sie unternahmen Fahrradausflüge, in die Berliner Parks, durch ganz Deutschland. Sollten die braven Nachbarinnen mit ihren braven Ehemännern und Kindern doch denken, was sie wollten.

„Auch wenn man mich belächelt, ich mach’s trotzdem“, sagte Gisela, ließ sich ihre Lebensversicherung auszahlen und fuhr los, zweimal um die ganze Welt, nach Amerika, nach England, Österreich, Italien. Schrieb alle ihre Erlebnisse auf. In England trat sie morgens aus ihrem Hotel, wollte auch ein Foto von sich selbst, drückte dem ersten Herrn, der an ihr vorüberlief, ihre Kamera in die Hand und bat in wackeligen Worten um ein Bild. Der Herr lächelte freundlich, neigte den Kopf zum Gruß und stellte sich als Bürgermeister der Ortschaft vor.

Mit Mitte 60 radelte sie allein durch Cornwall. Mit 72, im November 1989, hielt sie sich bei Freunden in den USA auf. Plötzlich kam einer von ihnen angelaufen, rief atemlos: „The wall is down!“ Gisela fragte erschrocken: „Ist denn jemand verletzt?“ Erst Minuten später begriff sie.

Begriff, dass Bärenklau, das Glück der Kindheitstage wieder näher rückte. Aber nicht ohne das Unglück. Wieder. Rolf Peter, der jüngste Sohn, starb. Eike, der ältere, kam schwer krank in ein Pflegeheim. Und Gisela lebte weiter. Verreiste mit Ilka, ihrer Enkeltochter. Schenkte ihr die zwei dicken gebundenen Bücher: „Meine Geschichte“.

Dann ein erster, leichter Schlaganfall. Sie trainierte ihre steifen Muskeln, die brüchige Sprache, ohne Unterlass, mit Erfolg. Bis zum zweiten, schweren Anfall. Auf Hilfe war sie mit einem Mal angewiesen. Und da sagte sie diesen Satz: „Ich will sterben.“

Ilka blättert in den beiden Bänden. Kann so viel Glück und Unglück gar nicht fassen. So viel Leben. Tatjana Wulfert

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