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Berlin: Gösta Lerch (Geb. 1938)

Mit dem Zeichnen begann er nach der 20-Uhr-Tagesschau

Es wäre eine interessante Ost-West-Zwillingsstudie geworden. Gösta, der Freigeist und Karikaturist aus Mahlsdorf, und sein Bruder, Industriearbeiter bei VW in Wolfsburg. Doch Gösta hielt nicht viel Kontakt zu seinen fünf Geschwistern. Und Sozialforschung war nicht sein Thema.

„Einsamer Wolf“ ist so eine Zuschreibung. „Er pflegt keine kollegialen Freundschaften“, sagt ein entfernter Kollege. Dafür lädt er Stasi-Leute, die sein Haus in Mahlsdorf beobachten, schon mal zum Tee ein, wenn es draußen regnet. Und erzählt ihnen, was er so macht, Dinge, die sie ohnehin schon wissen. In seinen Akten wird er gelobt. Ein offener Mensch, der DDR wohlgesonnen, aber leider westlichen Einflüssen ausgesetzt und für konspirative Zwecke völlig untauglich.

Ein Foto vom 4. November 1989: Gösta Lerch, schlanker, sportlicher Typ, Hemdknöpfe offen, volles Haar unter der Prinz-Heinrich-Mütze steht auf der großen Demonstration auf dem Alexanderplatz vor der Staffelei und zeichnet. Die Leute sollen sehen, wie er mit wenigen Strichen die Lage der DDR zusammenfasst. Wie Marx, Lenin und Stalin vor dem eigenen Volk flüchten.

Der Karikaturist Lerch wusste um seine Wirkung. Er hatte eine, so sagt es seine Frau, „arrogante Note“. Das hing wohl mit dem vielen Geld zusammen, das er zeitweise mit seinen Zeichnungen verdiente. Und auch mit der Vorkriegsaura seiner angesehenen und wohlhabenden Familie. Großvater Carl Friedrich besaß ein Delikatessengeschäft in der Kronenstraße, war Hoflieferant des Hauses Sachsen-Coburg-Gotha. Man ließ sich vom Chauffeur im Adler Phaeton durchs Preußische kutschieren. Ging dann alles verloren im Krieg und danach.

Seine ersten Karikaturen erschienen 1957 im Hedwigsblatt, einer katholischen Postille. Gösta Lerch war in katholischen Kinderheimen aufgewachsen, zuerst am Wannsee, später an der Greifswalder Straße, Prenzlauer Berg.

Die Mutter war 1942 beim dritten Kaiserschnitt gestorben, der Vater kam 1947 gebrochen und krank aus der russischen Gefangenschaft. Die sechs Kinder blieben im Heim, „die Lerchenkinder“. Gösta erinnerte sich später, er habe immer Kastanien schälen müssen für die Suppe, die sehr bitter schmeckte. Toll war es im Heim, wenn die US-Soldaten kamen mit Süßigkeiten, Matchbox-Autos und Frauen, die nach Parfüm rochen. Als er dann später im Osten war, gab es das nicht. Die russischen Soldaten waren eine Enttäuschung.

Gösta machte eine Lehre in der Druckerei der „Täglichen Rundschau“, dem Organ der sowjetischen Militäradministration. Später bekam er einen Vertrag bei der „Wochenpost“. Es machte ihm nichts aus, ideologie- und propagandakonforme Zeichnungen zu liefern. Die anderen mit Honecker-Witzen und Alltagspointen aus dem realen Sozialismus schenkte er seinen Freunden zum Privatvergnügen. Dem Kohlenhändler lieferte er regelmäßig Karikaturen, dafür bekam er immer die besten Briketts.

Mit dem Zeichnen begann er immer nach der 20-Uhr-Tagesschau. Am nächsten Morgen standen zwei oder drei Zeichnungen auf dem Klavier, und die Kinder durften sagen, welche ihnen am besten gefällt. Auch die Redaktion durfte unter mehreren Varianten wählen. Oft musste Gösta noch kleinere Änderungen machen, damit niemand Anstoß nehmen konnte.

Sein Tagwerk waren die Kinder, während seine Frau als Ärztin arbeitete. Ein ruhiges Leben, draußen in Mahlsdorf im eigenen Haus mit großem Garten, während seine Federstriche, in der gesamten Republik verteilt, den amerikanischen Imperialismus und westdeutsche Nazi-Amnesie aufs Korn nahmen. Sogar die „Prawda“ und der „Spiegel“ druckten mal eine Karikatur von ihm nach. Anschließend schrieb er einen Brief an Honecker, legte die Karikatur bei und bat um eine Mitarbeit beim „Neuen Deutschland. Das klappte aber nicht. Beim Satiremagazin „Eulenspiegel“ hätte er auch gerne angeheuert, aber dort regierte Kollege Heinz Behling, der ihm mal gesagt haben soll: „Ich bin der King und du der Loser.“ Dafür hasste Gösta ihn.

1981 wurde sein Vertrag mit der „Wochenpost“ gekündigt. Gösta hatte Breschnew gezeichnet, wie er als Papst Schafe hütet, eins davon schwarz, das war Polen. Die Zeichnung schenkte er seinem Nachbarn, der gab sie zurück: „Zu gefährlich.“ Dann hatte er noch was zu Kollegen gesagt: Als kritischer Zeichner käme man gleich nach Bautzen in den Knast. Göstas Karriere war beendet.

In der Wendezeit bekam er wieder viele Aufträge, vom Runden Tisch, später von der „Berliner Zeitung“. Aber als die Zeitung von einem West-Verlag übernommen wurde, ging er wieder leer aus.

Die weiteren Jahre waren schwer. Die Familie wurde noch mal größer, er kümmerte sich wieder um den Nachwuchs. Und klagte viel. Er versuchte sich in Ölmalerei, aber Wolken und Blumen wollten ihm nicht gelingen. Dann gab er auf.

Die Krankheit Alzheimer übernahm die Regie. Gösta verlor langsam das Interesse an seiner Umgebung, das Gedächtnis streikte, er musste ins Heim, verlor die Lust zu sprechen, ließ alles über sich ergehen. Auch den Tod.

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