zum Hauptinhalt

Berlin: Griff nach den Sternen

Carsten Nicolai lässt Besucher die Temporäre Kunsthalle bekleben

Mehr als 1500 Quadratmeter – einer so großen weißen Fläche kann man kaum widerstehen. Bei diesem Anblick fühlt doch jeder den versteckten Künstler in sich: das Bedürfnis sich darauf auszutoben – mit Stiften, Farben oder vielleicht mit Aufklebern? Nur noch bis Dienstagmorgen wird die derzeit wohl größte weiße „Leinwand“ Berlins jungfräulich bleiben – die Temporäre Kunsthalle neben der Wiese in Mitte, auf der jetzt erst mal doch kein Schloss gebaut wird.

Ab elf Uhr werden Berliner und Gäste auf das große Weiß losgelassen – mit Aufklebern in sieben Farben, die alle die selbe Form haben. 90 000 sollen verteilt werden. Jeder bekommt zehn und darf loslegen. Damit man auch in die oberen Regionen der elf Meter hohen Wände gelangt, steht bis zum 13. Juni eine Hebebühne bereit, jeweils von 11 bis 18 Uhr.

Der Mann hinter diesem Kunstprojekt ist der international bekannte Künstler und Musiker Carsten Nicolai. Bei Biennalen in Venedig und Buenos Aires hat er ausgestellt, in der Frankfurter Schirn und in der Neuen Nationalgalerie. Gerade steht Nicolai vor der Temporären Kunsthalle, um etwas über sein neues Projekt zu erzählen. „Ich habe sozusagen die Gebrauchsanweisung geschrieben“, sagt er mit leichtem sächsischen Akzent und lächelt sein zurückhaltendes Lächeln. Er wollte kein fertiges Kunstwerk schaffen. Sondern einen „selbstorganisierenden Prozess“ anstoßen. „Der läuft zwar sehr kontrolliert ab: Fläche, Form und Farben sind vorgegeben. Aber es gibt trotzdem diesen spielerischen Moment.“ Dann drückt er fürs Foto mal kurz einen der Aufkleber auf die Wand, einen blauen. Der muss aber gleich wieder ab, schließlich ist noch nicht Dienstag. „autoR“ hat Nicolai sein Projekt genannt, ein Wortspiel aus dem griechischen Wort „auto“, das „selbst“ bedeutet – wie in „selbst ist das Publikum“. Und natürlich dem „Urheber“. Das ist doch Nicolai.

Es sei gar nicht so einfach gewesen, eine Form zu finden, die „versucht, frei von Assoziationen zu sein“. Viele Formen seien schon „mit Bedeutung belegt“ – von Firmen und der Geschichte. „Welche Form sagt euch am wenigsten“, hat er immer wieder Bekannte gefragt und ihnen viele Ideen vorgelegt – bis er jenes Symbol gefunden hatte, das nun als Aufkleber dient: eine Art Stern aus drei abgerundeten Balken. Die Sache mit den Aufklebern ist „Phase zwei“ von Nicolais Projekt. Phase eins war, den Palast der Republik verschwinden zu lassen. Natürlich nicht den richtigen, der ist ja schon länger weg. Sondern die „Fototapete“ der Künstlerin Bettina Pousttchi, die vorher außen auf der Temporären Kunsthalle zu sehen war. Nicolai hat einfach eine „weiße PVC-Haut“ darübergelegt. Eine neue Schicht Kunst sozusagen. Seit dem ersten April ist die Halle weiß.

Und im September soll sie wieder verschwinden, schließlich war sie nur als temporäre Angelegenheit geplant – ebenso wie Nicolais Werk. Kunst mit Verfallsdatum gefällt ihm, „permanente Skulpturen im öffentlichen Raum“ weniger. Man wisse doch oft nicht mehr, wofür irgendwelche alten Reiterstandbilder eigentlich stünden. Bei diesem Thema wirkt der sonst so zurückhaltende, ruhige Mann plötzlich sehr engagiert. Man kann sich auf einmal vorstellen, wie er unter den Pseudonymen „noto“ und „alva noto“ als Electro- DJ hinterm Mischpult Menschen zum Tanzen bringt. Genau das hat er am Mittwoch ab 22 Uhr in der Temporären Kunsthalle vor: Beim DJ-Battle „Rückspiel“ mit seinem Bruder Olaf Nicolai und und den DJ-Brüdern Robert und Ronald Lippok. Daniela Martens

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false