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Berlin: Grün ist Hartz

38 000 offene Fälle – und alle 16 Minuten kommt ein neuer hinzu. Deutschlands größtes Sozialgericht kämpft gegen die Klageflut

Akten. Wohin man in den Räumen des Sozialgerichts blickt, überall türmen sich die Akten. Auf den Schreibtischen, auf den Bürowagen, in Kisten, in den meterhohen Regalen, die sich an den Wänden der hohen Räume entlangziehen. Ohne Trittleiter sind die höchsten Stapel schon lange nicht mehr erreichbar. Und es werden immer mehr. Klack, klack – ohne Unterbrechung wird der Eingangsstempel in der Poststelle im Erdgeschoss des Gebäudes aufs Papier gedrückt. Rund 3000 Schriftstücke bearbeiten die Justizwachtmeister dort täglich und verteilen sie an die richtige Adresse im Haus. „Um 6.15 Uhr kommt die erste Lieferung von der Rentenversicherung, eine halbe Stunde später die von den Jobcentern“, sagt Justizwachtmeister René Hildebrandt. Danach noch die Schreiben, die von den Verwaltungen, per Post oder von der Pin AG das Haus erreichen. Gleichzeitig spucken auch die beiden Faxgeräte ein Blatt nach dem anderen aus. Immer wieder bringen Menschen ihre Klage persönlich vorbei und wollen sehen, wie das Schreiben gestempelt wird. Bis 14 Uhr kommen die Männer kaum hinterher.

Die meisten Unterlagen und Schriftstücke landen in dünnen, hellgrünen Pappdeckeln. In Deutschlands größtem Sozialgericht ist Hellgrün die Farbe für Hartz IV. Und Hartz IV ist dort in den vergangenen fünfeinhalb Jahren zum größten Klagekomplex geworden. Nichts hat das Sozialgericht so sehr verändert wie die umstrittene Arbeitsmarktreform. Erst vor wenigen Wochen wurde in Berlin das 100 000. Hartz-IV-Verfahren gezählt. Die Zahl der Richter hat sich seitdem verdoppelt; und auch die Zahl der übrigen Mitarbeiter musste aufgestockt werden. Betrachtet man es nur rein rechnerisch, befassen sich 66 Richter ausschließlich mit Klagen gegen die 12 Berliner Jobcenter. Zehn Monate brauchen sie durchschnittlich, um ein Verfahren abzuschließen.

Der alte Gerichtsbau an der Invalidenstraße – um 1870 als Direktionsgebäude für den Hamburger Bahnhof errichtet – kann die vielen neuen Mitarbeiter und die ganzen Akten kaum noch fassen. Wo einst die Kantine war, sind heute Büros. Die Sekretärinnen mussten enger zusammenrücken, und auch die Verhandlungssäle gelangen an ihre Kapazitätsgrenzen; manche Richter teilen sich jetzt an ihren Sitzungstagen den Raum.

Die Antragsstelle ist ebenfalls gut ausgelastet. Wer vor dem Sozialgericht seine Ansprüche gegen die Jobcenter, die Krankenkasse oder die Rentenversicherung durchsetzen will, muss seine Klage nicht unbedingt selber formulieren. Da helfen die Mitarbeiter der Antragsstelle.

Genau dort, sagt Erika Schmidt (Namen der Kläger geändert) bei ihrer Verhandlung gegen das Jobcenter Neukölln, habe sie ihre Klage anfertigen lassen. Die 61-Jährige, die mit ihren zwei Enkelkindern und einem Sohn zusammenlebte, will von der Behörde für sechs Monate im Jahr 2006 die vollständige Miete in Höhe von 704 Euro für ihre Wohnung bezahlt bekommen. Das Jobcenter hatte nur bezahlt, was der Senat in seiner „AV (Ausführungsvorschrift) Wohnen“ für vier Personen für angemessen hält: nämlich pauschal 619 Euro inklusive Heizkosten. Aber was der Senat für angemessen hält, ist für das Gericht noch lange nicht bindend; darauf macht Richter Iven Gräf die Klägerin und den Jobcenter-Vertreter aufmerksam: „Das ist nur eine Verwaltungsvorschrift.“ Das Bundessozialgericht fordere andere Berechnungen – etwa eine Orientierung am Mietspiegel, eine Festlegung der Wohnungsgröße und eine gesonderte Ausweisung der Heizkosten. Das heißt dann Produkttheorie. Was der Senat sich als praktikable Handlungsweise ausdachte, wurde ein Bumerang und beschäftigt jetzt in zeitaufwendigen Verfahren die Gerichte. In jedem Einzelfall muss bei Klagen die Miete individuell neu überprüft werden.

Richter Gräf kommt übrigens in seinem Urteil bei Frau Schmidt zu einer ähnlichen Miethöhe wie die AV Wohnen des Senats. Das Jobcenter wird ihr jetzt nach knapp vier Jahren insgesamt 37 Euro Miete nachzahlen. Der Sohn müsste eine Nachzahlung in ähnlicher Größenordnung für seinen Mietanteil gesondert durchsetzen; denn er war in der Klage nicht erwähnt. Die Enkel zählen laut Gräf ohnehin nicht zur Bedarfsgemeinschaft, da die Großmutter lediglich Vormund ist und die Kinder nicht adoptiert hat. Das war dem Jobcenter in seinen Bescheiden gar nicht aufgefallen.

Für Sozialgerichtspräsidentin Sabine Schudoma ist ein solcher Streitfall um die Miete „ein Klassiker“. Die Formulierung im Sozialgesetzbuch II „angemessene Unterkunft“ sei einer dieser „unklaren Rechtsbegriffe“, die „mit Leben gefüllt werden“ müssten. In den letzten Jahren wurde das Sozialgericht nicht müde, immer wieder auf diese gesetzlichen Unzulänglichkeiten zu verweisen. Man könnte das auch als Kritik an den Politikern verstehen, die dieses Gesetz auf den Weg gebracht haben, und darin den Vorwurf sehen, schlampig gearbeitet zu haben. Aber Schudoma ist Richterin durch und durch; deshalb würde sie nie von politischen Äußerungen sprechen: „Wir schildern Fakten über die Situation bei uns im Gericht und sagen, dass das Gesetz in der Praxis Schwierigkeiten macht.“ Aber die Initiative der Länderjustizminister, die Hartz-IV-Gesetze klarer zu fassen, begrüßt sie sehr, dämpft aber gleichzeitig zu große Hoffnungen, „dass es jetzt ganz einfach wird“: „Sozialversicherungsrecht ist und bleibt eine komplizierte Materie.“

Vorerst aber stellt sich Schudoma auf weiter steigende Fallzahlen ein. „Aktuell gibt es keinerlei Anzeichen für eine Trendwende“, sagt die Gerichtspräsidentin. Bereits in den ersten fünf Monaten dieses Jahres nahmen im Vergleich zum Vorjahr die Hartz-IV-Verfahren um 35 Prozent zu. Und sollte das geplante Sparpaket der Bundesregierung umgesetzt werden und es damit Kürzungen bei den Leistungen für Hartz-IV-Empfänger geben, ist nach den Erfahrungen des Gerichts mit weiteren Klagen zu rechnen. Oft geht es um geringe Beträge, vielleicht um insgesamt 100 Euro. Das Gerichtsverfahren, das sich wie bei Frau Schmidt manchmal auch wegen unvollständiger Akten über Jahre hinziehen kann, kostet ein Vielfaches. Schudoma hat Verständnis für die Kläger: „Man muss sehen, dass sich die Regelsätze am Existenzminimum orientieren, da kämpft man auch für kleine Summen.“

Mit wenig Geld muss sich der 20-jährige Sven Wagner zufrieden geben. Das Neuköllner Jobcenter hatte sich geweigert, für seine Wohnung eine Erstausstattung zu zahlen und die Kosten etwa für ein Bett, einen Schrank, einen Schreibtisch und einen Kühlschrank zu übernehmen, weil er diese erst ein Jahr nach dem Einzug beantragt habe. Wagner war, als er volljährig wurde, von einem betreuten Wohnprojekt in eine eigene Wohnung gezogen. Während der Verhandlung stellt sich heraus, dass er noch vor seinem Umzug vom Jugendamt 700 Euro für die Einrichtung erhalten, davon aber die Mietkaution bezahlt hatte.

„Wir reden hier von staatlichen Transferleistungen. Da Sie schon etwas bekommen haben, hätte ich Bauchschmerzen, noch etwas zu bewilligen“, sagt Richter Gräf und macht dem jungen Kläger so deutlich, dass bei einem Urteil nichts weiter zu erwarten ist. Aber er eröffnet ihm gleichzeitig die Möglichkeit, sich vor Gericht mit dem Jobcenter auf ein Darlehen für ein neues Bett – das alte stammt noch aus dem früheren Kinderzimmer und ist inzwischen kaputt – zu einigen.

Der junge Mann überlegt hin und her. „Das ist zinsfrei“, sagt Gräf. „Billiger können Sie das Geld auch nicht von Ihren Freunden bekommen.“ Das Argument zieht. Der Rechtsstreit ist damit ohne Urteil beendet. Aber im Sozialgericht warten derzeit noch rund 38 000 offene Verfahren darauf, erledigt zu werden. Und alle 16 Minuten kommt ein neuer Fall hinzu.

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