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Grünflächen in Berlin: Platz zum Leben

Die Stadt wird zugebaut, doch zugleich tun sich neue Freiflächen auf - und die Berliner haben dazu ihre ganz eigene Meinung. Folgen Sie unserem Autor auf seinem Weg durch Berliner Parks.

Zwei ältere Frauen schaukeln gedankenverloren im Park am Gleisdreieck. Jetzt, da die Kinder erwachsen sind, haben die beiden Zeit für solche Zerstreuung. Und vor allem: Platz. Dabei lag die Zahl der Baugenehmigungen im vorigen Jahr mit 3549 so hoch wie lange nicht. Allein die Nutzfläche für Gewerbeneubauten summierte sich laut Statistikamt auf 527 000 Quadratmeter. Das klingt, als würde es langsam eng in der bisher so luftigen Stadt. Doch Freiräume verschwinden nicht nur, sondern tun sich auch auf. Reichen sie? Oder sind es gar mehr als genug? Zeit für einen Blick in die Weite.

Unerreicht ist noch immer die Tempelhofer Freiheit, größer – aber vorerst nicht ganz so frei – wird nur der Bald-Ex-Flughafen Tegel. Zentral liegt das Gleisdreieck, rustikal ist das Südgelände, lang und schmal das Wuhletal. Oder das Spreeufer in Oberschöneweide: Industrie weg, Platz da. Am Nordbahnhof ein karger Park auf der Spur der Gleisschottersteine. Als Kontrast für Freunde des gepflegten Grüns der Botanische Volkspark Blankenfelde mit Arboretum, Bauerngarten und Wildgehege.

In Rudow wiederum hat die Autobahn einen Landschaftspark mitgebracht, in Johannisthal hat ein alter Flugplatz einen hinterlassen – auch wenn der einem Truppenübungsgelände ähnelt. In Gatow, wo ebenfalls ein Flugplatz „zugeparkt“ wird, tun sich die Anwohner schwer mit der Dankbarkeit, weil sie zum Grillen doch ihre Gärten haben und ihnen das naturbelassene Hundeklo genügt. Laut Statistischem Landesamt bestehen zwölf Prozent Berlins aus Freiräumen. 100 Quadratkilometer! Plus 160 Quadratkilometer Wald.

Die Frauen sind abgestiegen und haben die Schaukeln an ein paar Halbstarke übergeben. „Schön, dass die Spielplätze hier nicht nur für Kinder attraktiv sind“, sagt die eine. Ihre Freundin findet den Park etwas kahl und den Zugang von der Yorckstraße zu autobahnähnlich. „Aber dafür hat man auch mal einen weiten Blick“, sagt sie. Und beide stellen fest, dass es für die vielen Anwohner ringsum gar nicht genug Freiraum geben könne. Auf die am Südostzipfel geplanten Wohnungen solle man verzichten, finden sie. 

Es ist das, was fast alle Leute in fast allen Parks sagen. In Tegel kann es ähnlich werden, wenn ab September die ersten Touren übers Feld starten und der Zaun im Laufe der nächsten Jahre immer durchlässiger werden soll. Wann und wie genau, steht laut Senat noch nicht fest. Aber die Sehnsucht ist greifbar, wenn man am Zaun entlangspaziert und sich den Fluglärm wegdenkt. Axel Klapka, Berliner Vorsitzender im Bund deutscher Landschaftsarchitekten, kommt beim Blick auf Tegel ins Grübeln über die gesamte Freiraumplanung des Senats: Warum nicht hier im ohnehin recht grünen Nordwesten die Bebauung für Gewerbe und neue Wohnungen konzentrieren, statt der tempelhophilen Öffentlichkeit die dort geplanten Randbebauungen abzutrotzen und vom Gleisdreieck eine Ecke abzuknapsen?

Der Rentner, der parallel zur Bahntrasse den Gleisdreieckpark durchmisst, mag ihn nicht. Er hätte sich mehr Mut zum Gestrüpp gewünscht: „Wozu denn diese schnurgeraden Betonwege?“, fragt der in Italien Geborene. „Nirgends Schatten, aber dafür preußische Paradestrecken. Soll man hier Bundespräsidenten verabschieden oder was?“ Als er dann noch „Gleiswildnis“ auf einem Schild am Wegesrand liest, muss er lachen: „Diese Bäumchen hier auf den Schienen? Unter Wildnis stelle ich mir was anderes vor.“

Vielleicht wird ja der Westpark schattiger, der in einem Jahr öffnen soll. Wieder neun Hektar, umsonst und draußen. Bis dahin empfiehlt der Italiener als gelungenere Alternative den urwüchsigen Naturpark Südgelände, der 1999 ebenfalls auf einem alten Bahngelände entstanden ist.

Ebenso interessant wie der Park ist der Weg dorthin: Ein blauer Balken auf weißem Grund weist die Richtung. Er klebt an Straßenschildern und Laternen, ist auf einen Findling beim Gasometer gesprüht und trägt die Nummer 5 im blauen Balken: Einer von „20 Grünen Hauptwegen“ durch die Stadt, die der Senat mithilfe des Berliner Wandervereins gesucht, markiert und sogar als Marke („®“) schützen lassen hat – auf insgesamt mehr als 500 Kilometer Länge, aber unter Ausschluss der breiten Öffentlichkeit. Das Projekt ist bald zehn Jahre alt und fast vollendet. Zwar bleiben viele Routen Provisorien. Aber auf Nummer 5 wird man in wenigen Jahren stressfrei vom Potsdamer Platz bis zum Priesterweg gelangen. Am Südkreuz geht es unter der Parkhauseinfahrt durch und über die Stadtautobahn. Dann durch den Grünzug oberhalb der Kleingärten.

Dann ist das Südgelände erreicht. „Zur Park-Erhaltung: Ein Euro Eintritt muss sein“, steht am unbemannten Kassenautomat. Und für Graffitifreunde die Info, wo sie sprühen dürfen und wo nicht.

Bei aller Liebe zum Detail hätte sich Klapka einen stärkeren Blick aufs große Ganze gewünscht. Beispielhaft nennt er die Mühlenstraße an der O2-Arena. „Hätte man diese Straße auf die Brache an der Bahntrasse verlegt, gäbe es jetzt einen riesigen Grünzug an der Spree entlang.“ Städte wie Lyon und Barcelona hätten Vergleichbares getan – zum Wohl ihrer Bürger.

Berlins Chef-Tourismuswerber Burkhard Kieker dagegen sieht auch die Berliner Freiräume als „urbane Chance, die kaum eine andere Stadt so hat“. Der Tempelhofer Park sei „das friedliche Anarcho-Berlin“. Er sei gerade zurück aus Mexiko, wo er zur allgemeinen Begeisterung einen Film gezeigt habe mit einem Surfer, der auf Rollen über die Startbahn rast.

Vielleicht war es Max. Man erreicht ihn über den Grünen Weg® Nr. 18, der „Innerer Parkring“ heißt und etwa parallel zum S-Bahn-Ring verläuft. Max ist 27 Jahre alt und sortiert gerade die Seile seiner Landsurfausrüstung. Er habe erst damit angefangen, als der Park der Parks hier vor knapp zwei Jahren geöffnet wurde, berichtet er. Die Berliner Landsurfer-Szene schätzt er auf 30 Leute, ihren harten Kern auf ein Dutzend, von denen allerdings verletzungsbedingt nur noch fünf aktiv seien. Nach dem Studium will Max wegziehen in eine freundlichere Stadt. Weil Berlin nicht überall so gemütlich ist wie hier. „Das ist schon einmalig“, sagt Max und lässt den Blick schweifen. „Die sollen hier bloß nix bauen!“ Wer auf dem Wiesenmeer der Lerche lauscht und die ersten Grashalme des Jahres 2012 unter den Füßen spürt, begreift das Prinzip: Hektik oder gar Aggression wären Energieverschwendung bei so viel Platz ringsum.

Klapka, der Freiraumplaner, sieht Bedarf für noch mehr: „Früher gab es nur die Hasenheide. Jetzt haben wir auch Tempelhof und das Gleisdreieck, aber die Hasenheide ist immer noch voll.“ Auch die Konflikte am Mauerpark resultierten daraus, dass der „völlig übernutzt“ sei. Nachdem schon viel zu viele Mauerbrachen bebaut worden seien, gelte jetzt: „Retten, was zu retten ist!“

Eine Frau um die 50 muss erst mal überlegen bei der Frage, wo man früher hinging. Hasenheide, Tiergarten, Körnerpark fallen ihr ein. In den verrumpelten Görli nur notfalls und ins j.w.d. gelegene Lübars nur bei übergroßem Ruhebedürfnis. „Denn voll war es immer und überall“.

Den Görli hat auch eine der Frauen vom Gleisdreieck satt, seit sie im vergangenen Jahr bis an den Mauerstreifen nach Treptow vorgedrungen ist. Sie plant nun weitere Expeditionen; vielleicht sogar bis nach Schönefeld. Das ginge über die Grünen Wege® Nr. 17 und 15 oder über Nummer 9 und an der südlichen Stadtgrenze rechts. Man müsste es nur wissen. Stefan Lieb vom Fußgängerverband bedauert, dass die Markierungen nicht wenigstens auf die vor einigen Jahren aufgestellten Fußgängerwegweiser abgestimmt worden sind.

Auch die technisch brillante Internetpräsentation samt GPS-Track auf den Seiten der Stadtentwicklungsverwaltung ist tief in den Untermenüs vergraben. Dass der Senat sich den Allerweltsbegriff als Marke schützen lassen hat, beruht gerüchteweise auf dem Eifer einer inzwischen pensionierten Mitarbeiterin. Sollte man sich aufregen über derlei Unfug? Ach was. Lieber wandert man auf den 500 Kilometern oder bleibt, wo man ist. Irgendwo ist immer was frei.

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