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Berlin: Günther Heidemann (Geb. 1932)

Überall war die Welt ein wenig anders, nur im Ring nicht.

Im Herbst 2003 setzte sich Günther Heidemann hin, um einen Lebensbericht zu verfassen. Abgesehen von einigen Passagen über seine „schöne Sportlerzeit 1947–1957“ ist vor allem vom Krieg die Rede. Heidemann schildert, wie er als Knabe Zeuge eines Straßenkampfes wurde. Zwei deutsche Heckenschützen erschossen von einem Balkon aus 15 russische Soldaten. Nach jedem Treffer klatschten sie die Hände ab, wie es die Sportler tun. Zwei Tage vor Kriegsende war das. Die Szene brannte sich ihm ein.

Nicht ein einziges Mal erwähnt er in seinem Bericht, für welche sportliche Leistung er 1954 bei den Olympischen Spielen in Helsinki die Bronzemedaille gewann: Er war Boxer im Weltergewicht.

Berliner Meister, Deutscher Meister, Olympiadritter, Europaauswahl; als Boxer erlebte er die Nachkriegszeit in vielen Ländern, überall war sie ein wenig anders, nur im Ring nicht. Er kämpfte in New York und Chicago, er wurde von Tausenden bejubelt im Berliner Sportpalast, er tourte durch Europa. Nur einen Kampf ließ er aus: In Moskau gegen jene antreten, deren Landsleute er hatte sterben sehen, das konnte er nicht. Er fühlte sich verantwortlich.

Er boxte ehrgeizig. Während des Kampfes las er seine Gegner förmlich aus. Er besiegte sie mit Geduld, Schnelligkeit und Technik und als Linkshänder mit dem Überraschungseffekt. Warum nur gab er den Sport auf dem Höhepunkt seiner Karriere auf? Seinem Sohn sagte er einmal lapidar, er habe keine Lust mehr gehabt. Er war ja kein Profi, schuftete am Tag auf dem Bau und trainierte jeden Abend. Den Kopf als Sparringspartner für die Profis hinhalten, brachte nicht viel ein.

Was der Sport ihm brachte: Reisen, Begegnungen, Freundschaften und die Einsicht, dass die Menschen gut sein können zueinander. Und er lernte, dass stetes Training zum Erfolg führt.

Bei einem Kampf in Chicago erlitt er einen Nasentrümmerbruch. Seitdem war die Nase breiter. Schwerer als das Aussehen wogen jedoch die Atemprobleme. Zwei Operationen konnten sie nicht beheben.

Nach der Trennung von seiner Frau 1967 nahm er den Sohn zu sich in seine kleine Neuköllner Schulhausmeisterwohnung. Er kochte gern, war ein perfekter Hausmann und ein liebender Vater. „Auf den Kopf kommt es an“, erklärte er dem Sohn, das hatte schon beim Boxen gegolten und beim Rest des Lebens sowieso. Strenge ließ er walten, aber meistens lockerte er den auferlegten Stubenarrest, kaum dass der Ärger verflogen war. Seinem Boxclub in Neukölln blieb er treu, gelegentlich gab er Lehrstunden. In den Siebzigern zeigte er einer Frauengruppe an der Volkshochschule, wie man Angreifer pariert und schmerzvoll treffen kann. Zu Demonstrationszwecken baute er eine große hässliche Gummipuppe.

Der Krieg und die Nachkriegszeit hatten ihn Bescheidenheit gelehrt, so begnügte er sich mit wenig und sparte an. In Schleswig-Holstein kaufte er schließlich ein altes, auf morastigem Untergrund erbautes Landhaus und mauerte es neu auf. Als er Rentner wurde, zog er um. In der Natur fand er Ruhe und Frieden. Doch als der Alltag auf dem Land zu beschwerlich wurde, kehrte er nach Berlin zurück und schrieb seinen Bericht. Er hatte Probleme mit dem Herzen, lehnte aber jede Operation ab. Sein Leben legte er vertrauensvoll in die Hände der Natur. Sie meinte es gut mit ihm und seinem Herzen. Er erlag einem Gehirnschlag; für einen Boxer kein ganz ungewöhnliches Ende. Stephan Reisner

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