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Berlin: Gut ausgebildet, nicht vermittelbar

Langzeitarbeitslose in Berlin wollen sich selbst helfen – im Verein. In Hamburg hat das Modell erste Erfolge

Als ihm noch nicht klar war, warum man ihm absagte, hielt Dieter Vogel die Deckblätter der zurückgeschickten Bewerbungen gegen das Tageslicht, um nach Abdrücken zu suchen. Abdrücke jener Notizen, die sich die Personalabteilungen gemacht hatten. Ab und an fand Vogel diese Spuren. Er las: zu alt, überqualifiziert. Vogel ist 55, verheiratet, Industriekaufmann, Controller, Marketing-Fachmann. Bis vor fünf Jahren hat er für Berliner Niederlassungen großer deutscher Konzerne gearbeitet. Seither ist er arbeitslos, er hat 250 Bewerbungen geschrieben. Von den Arbeitsvermittlern habe er drei Angebote bekommen, sagt er.

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsförderung in Nürnberg schätzt die Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmer in Deutschland als „im europäischen Durchschnitt zu niedrig“ ein. Fast jeder vierte Arbeitslose ist älter als 50. Mehr als die Hälfte davon ist länger als ein Jahr ohne Arbeit, Tendenz steigend. Das sagen auch die Statistiken der Berliner Arbeitsagenturen. Die Vermittler dort und in den Jobcentern haben oft schon kapituliert, denn Arbeitgeber verlangen nach jungen Kräften.

„Hier liegt viel Wissen und Können brach“, sagt Dieter Vogel. Er hat aufgehört, auf fremde Hilfe zu hoffen. Und er will selbst helfen. Menschen, denen es ähnlich ergeht wie ihm. Deshalb ist Vogel gerade dabei, mit vier anderen Berlinern einen Verein zu gründen: ein Netzwerk, das Menschen mit einem ähnlichen Lebenslauf wie seinem die Chance geben soll, sich auszutauschen und sich gegenseitig zu Arbeit zu verhelfen. Die Mitglieder sollen sich mit ihrem Wissen und Können unterstützen: der Finanzexperte den IT-Fachmann bei seinem Businessplan und der umgekehrt den Finanzexperten bei Computerproblemen. Leute sollen zusammenfinden, um gemeinsam Unternehmen zu gründen.

Ein Modellprojekt in Hamburg nährt die Hoffnung, dass aus diesen Ideen Wirklichkeit wird. Dort hat Klaus Wilk, selbstständiger Tontechniker, 56, vor ein paar Monaten den Verein „Silberpfeil e. V.“ gegründet. Etwa 60 Mitglieder hat Silberpfeil. Der Verein bietet Bewerbungstraining, Internetzugang und Beratungen an. Die Arbeitslosen betreiben ein Café und eine Weinstube, dazu eine Dienstleistungs-Tauschbörse. Dafür zahlen die Mitglieder 50 Euro im Jahr – so sie es können. Im Moment übernehmen die paar berufstätigen Vorstände die Kosten für Miete der Räume und Telefon. Ende des Jahres muss sich das Projekt selbst tragen. Bis dahin müssen sich Sponsoren und Kunden finden.

Wilk ist ein Mann, der überzogene Erwartungen schüren will. Er sagt: „Zehn Leute, die zu uns kamen, haben einen Job gefunden. Das waren nicht alles Traumjobs, manche nur auf Zeit, aber immerhin.“ Dieses Immerhin ist der Grund, warum er seine Idee nun in andere deutsche Städte trägt, um Nachahmer zu finden. „Mein Traum wäre, langfristig eine Lobby für ältere Arbeitslose zu schaffen.“ Kurz vor Weihnachten hat Wilk erfolgreich in Berlin missioniert.

Alles begann mit einer kurzen Meldung in einer Hamburger Lokalzeitung. Wilk las, dass Menschen über 50 auf dem Arbeitsmarkt chancenlos seien. Er wollte das nicht glauben und testete es, nur aus Neugier. Er verdient nicht schlecht. Wilk wählte 34 Stellenanzeigen aus, in denen Menschen mit unterschiedlichen Qualifikationen gesucht wurden, vom Lagerarbeiter bis zum Maschinenführer. Er erfand sich „tolle Papiere, mit super Referenzen“. Es reichte für kein einziges Vorstellungsgespräch. Einige Telefonate mit den Personalverantwortlichen liefen gut an. „Bis die Rede aufs Alter kam.“ Eine Bewerbungsmappe erhielt Wilk mit einem roten Kringel um die Altersangabe zurück. Er schaffte es nicht einmal, in einer Fabrik Bonbons einrollen zu dürfen.

So ähnlich ist es Wolfgang Keim ergangen. Keim ist 55. Ein Mann voller Energie, als sei er stets auf dem Sprung. Keim ist Betriebswirtschaftler, er war mal Controller und kaufmännischer Leiter in mittelständischen Unternehmen. Als er sich kürzlich bei einem Personaldienstleister bewarb, als Reinigungskraft für 6,70 Euro die Stunde, bekam er „nicht mal eine Antwort“. Seine 30 Jahre Erfahrung, diverse Weiterbildungen, perfektes Englisch, weit über 100 Bewerbungen – alles vergeblich. Warum? Keim versucht ein Lächeln, aber es missglückt. „Das Alter.“ Deshalb will er den Berliner „Silberpfeil“-Ableger mit gründen. Nach der zweiten Entlassung hatte er es als selbstständiger Finanzberater versucht. Anfangs verdiente er 2000 Euro, und da seine Frau eine Stelle als Arzthelferin hatte, kamen sie gut klar. Im vergangenen Jahr verdiente Keim 300 Euro monatlich, und seine Frau verlor ihren Job. Nun leben sie „von den letzten Ersparnissen“ und hoffen, dass sie Hartz IV bekommen.

Das droht Dieter Vogel vorerst nicht. Seine Frau verdient als Vorstandssekretärin genug für beide. Als er wissen wollte, ob Junge tatsächlich besser sind, hat er sich auf einer Schule angemeldet, die Weiterbildungen in Marketing, Controlling und EDV anbietet. Hat jede Woche zwei Prüfungen mitgeschrieben. Er sagt: „Ich konnte locker mithalten.“ Vogel weiß sich zu beschäftigen. Im Keller hat er zwei Räume mit chinesischen Wandverkleidungen geschmückt, alles Handarbeit. Er ist in die CDU eingetreten, er hilft im Heimatverein seines Stadtteils, man braucht ihn dort. Doch sein Selbstbewusstsein ist fragil. „Der Panzer ist weg.“

Dieter Vogel sagt, er würde für die Hälfte seines früheren Gehalts arbeiten. „Fürs Erste.“ Das wären gut 2000 Euro. Aber er könnte sich vorstellen, mit jemandem zusammen eine Firma zu gründen. Deshalb engagiert er sich im Verein Silberpfeil: Er will sich an Menschen orientieren, denen es geht wie ihm, die sich wehren gegen das Gefühl der Ohnmacht. Er hat das schon mal probiert, doch schon nach kurzer Zeit stellte sich heraus, dass die vermeintlich Gleichgesinnten tatsächlich Finanzberater auf Kundensuche waren. Keim will sich „mit Entscheidern austauschen“. Und missionieren. „Ich will, dass Leute ihre Ziele erreichen.“ Er selbst auch. Ob ihm der Verein dabei hilft, weiß er nicht. Aber er würde es sich nie verzeihen, nicht alles versucht zu haben.

Marc Neller

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