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Berlin: „Gute Kitas sind wichtiger als Betreuungsgeld“

Berlins scheidender Bischof Wolfgang Huber über die veränderte Stadt, neue Familienbilder und Versöhnung mit SED-Kadern

Sie sind seit fünfzehn Jahren Bischof in Berlin. Wie hat sich die Stadt verändert?

Am Anfang meiner Bischofszeit fuhr ich jeden Tag über den Mauerstreifen, der Potsdamer Platz war eine Brache. Ich habe das Zusammenwachsen der Stadt von Woche zu Woche direkt erlebt. Das ändert nichts daran, dass es in der Mentalität der Menschen noch deutliche Unterschiede zwischen Ost und West gibt.

Wie hat sich die Kirche verändert?

Auch die Kirche ist zusammengewachsen. Sie war viele Jahre sehr stark mit sich selbst beschäftigt. Dazu kam, dass ziemlich bald nach meinem Amtsantritt das Kirchensteueraufkommen drastisch zurückging. Wir mussten sparen und umstrukturieren. Jetzt konzentriert sich unsere Kirche wieder viel mehr auf ihre Kernaufgabe, geht auf die Menschen zu und ist in der Öffentlichkeit wahrnehmbar. Dass heute beispielsweise Pfarrer in den brandenburgischen Zeitungen regelmäßige Kolumnen schreiben, war vor fünfzehn Jahren nicht vorauszusehen.

Aber das Ergebnis der Volksabstimmung „Pro Reli“ hat gezeigt, dass es noch immer große Unterschiede zwischen Ost- und West-Berliner Pfarrern gibt.

Unterschiede gibt es, aber nicht nur zwischen Ost und West. Es gibt in Ost-Berlin glühende Verfechter des Religionsunterrichts an staatlichen Schulen wie auch Skeptiker. Beide Gruppen gibt es aber auch in West-Berlin.

Haben Sie die Skepsis in Ost-Berlin gegenüber dem schulischen Religionsunterricht unterschätzt?

Nein, schon in den ersten Wochen meines Bischofsamtes wurde mir gesagt: Schule ist für uns feindliches Gebiet. Darin drückten sich die schmerzlichen Erfahrungen von Christen mit der Unterdrückung gerade in der Schule aus. Die Skepsis ist immer lebendig geblieben.

Ist es dann nicht überraschend, dass der am stärksten wachsende Bereich der evangelischen Kirche die Schulen sind?

Überraschend ist das nicht. Viele Eltern suchen christlich geprägte Schulen. Sie wollen sich stärker an der Gestaltung beteiligen. Das ist an unseren Schulen besser möglich als an staatlichen. Auch bekommen die einzelnen Schüler mehr Zuwendung; reformpädagogische Ansätze spielen eine größere Rolle. Und viele Eltern wollen ihren Kindern eine fundiertere religiöse Bildung ermöglichen.

Sollten die Kirchen verstärkt Sekundarschulen gründen, um auch sozial benachteiligte Kinder zu erreichen?

Das ist eine wichtige Aufgabe. Aber Neugründungen von Schulen gehen bisher immer von Eltern aus; sie werden nicht kirchlich verordnet. Die Aktivität ergreifen sehr oft Eltern, denen Bildung wichtig ist und die für ihre Kinder eine Gymnasialausbildung anstreben.

Müssten die Kirchen nicht gegensteuern?

Das kann man nur exemplarisch machen, nicht in der Breite.

Wo muss sich die Kirche stärker engagieren? Die Stadt ist in den vergangenen Jahren ja nicht reicher geworden.

In Berlin hat sich die Schere zwischen Reichtum und Armut weiter geöffnet. Es gibt sehr viel mehr Initiativen, um auf die wachsende Armut zu reagieren. Aber wir müssen uns auch um die sozialen Strukturen kümmern und fragen, ob genug getan wird, um Menschen vor dem Abrutschen zu bewahren.

Tut der Senat genug? 

Ich sehe nicht genug Initiativen, um das wirksam zu korrigieren. Das halte ich aber für eine vordringliche Aufgabe der Stadtpolitik.

Halten Sie Bauprojekte wie „Mediaspree“ für sinnvoll?

Das muss man sicher im größeren Zusammenhang sehen; viele der verwirklichten Teilprojekte sind bemerkenswert. Aber ich wünsche mir, dass man die Lebensperspektive der Menschen in den Vordergrund rückt, nicht allein die Perspektive der Investoren. Der eindrucksvolle Erfolg der Initiative „Spreeufer für alle“ sollte bei der Planung berücksichtigt werden.

Würdigt der Senat das, was die Kirchen für die Berliner leisten?

Unsere Initiativen werden gewürdigt. Wir haben in Berlin und Brandenburg eines der größten diakonischen Werke in Deutschland mit rund 50 000 hauptamtlichen Mitarbeitern und vielen Ehrenamtlichen. Der Senat respektiert das auch und versucht, das Ehrenamt zu stärken. Aber wenn es um die Finanzierung der Jugendhilfe oder um die Festsetzung der Pflegesätze in der Altenhilfe geht, betreten wir schwieriges Gelände. Was dort geleistet wird, ist zentral für die Menschlichkeit der Gesellschaft und wird doch gesamtgesellschaftlich nicht genügend gewürdigt.

Hat die neue Bundesregierung dafür mehr Verständnis?

An der Gesundheitspolitik wird sich zeigen, wie wichtig der neuen Regierung die soziale Gerechtigkeit ist.

Fürchten Sie, dass sich die Spaltung der Gesellschaft unter Schwarz-Gelb vertieft?

In dieser Koalition sind Kräfte stärker, die staatliche Rahmensetzungen zurückfahren wollen. Damit geht natürlich die Gefahr einher, dass Arm und Reich noch weiter auseinanderdriften.

Ist das geplante Betreuungsgeld sinnvoll?

Das Heranwachsen von Kindern muss staatlich gefördert werden. Gegen das Betreuungsgeld habe ich aber erhebliche Bedenken. Wichtiger sind Maßnahmen, die Familien unterstützen, etwa gut ausgestattete Kindergärten. Das sind Bildungsorte, deren Qualität und Gebührenfreiheit Vorrang haben müssen davor, dass Familien einfach Geld gegeben wird.

Der Bundespräsident hat aus Anlass Ihres Abschieds aus dem Bischofsamt die „besondere Art und Weise“ gewürdigt, wie Protestanten Verantwortung in der Welt übernehmen. Worin besteht diese besondere protestantische Art und Weise?

Freiheit und Verantwortung miteinander zu verbinden. Verantwortung nicht als Einschränkung der Freiheit zu sehen, sondern als deren Ausdruck.

Wie will die Kirche dieses Denken in Ostdeutschland noch mehr verankern?

Wir wollen vor allem nicht nur auf das schauen, was fehlt, sondern auf das, was gelingt. So beteiligen sich an den Initiativen zur Rettung der Brandenburger Dorfkirchen auch viele, die bisher mit der Kirche wenig verbunden sind. Damit wird nicht nur ein Gebäude wieder hergestellt. Wenn man das würdigt, trägt das zur Lebendigkeit des Ortes bei und auch dazu, dass sich die Leute wieder für religiöse Fragen interessieren. 2010 sind in Ostdeutschland viel mehr Kirchen in einem guten Zustand als vor zwanzig Jahren. Das ist doch ein Erfolg!

Besonders im Osten der Stadt gibt es an vielen Schulen nur wenige Kinder, die den evangelischen Religionsunterricht besuchen. Der Senat zahlt aber nur einen Zuschuss, wenn die Gruppen eine bestimmte Größe haben.

Die Teilnahme am Religionsunterricht ist unterschiedlich in den Regionen der Stadt. Wir haben noch immer zu viele kleine Gruppen. Das können wir auf Dauer nicht finanzieren. Besonders im Osten der Stadt rate ich dazu, dass sich Profilschulen finden, die den Religionsunterricht verlässlich anbieten. Ich bin auch froh darüber, dass wir uns mit der katholischen Kirche verständigt haben, dass es verstärkt konfessionell-kooperativen Unterricht geben wird.

In der DDR ist die Kirche systematisch zurückgedrängt worden. Wie bewerten Sie die Versöhnungsinitiative von Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck gegenüber SED-Kadern?

Die Debatte zeigt, dass es so einfach nicht geht. Die Erwartung ist illusorisch, dass beim Schmieden einer Koalition in Brandenburg gleichzeitig ein Versöhnungsprozess stattfinden könnte. Die historischen Vergleiche sind unglücklich. Das Problem wird auf diesem Weg nicht gelöst.

Warum nicht?

Versöhnung setzt Klarheit und Wahrheit im Blick auf die eigene Geschichte voraus. Diese Klarheit und Wahrheit sehe ich bei der Linkspartei aufs Ganze bisher nicht. Versöhnung braucht einen Prozess der Klärung, unabhängig von politischen Absichten. Auf Landes- und Bundesebene gibt es in der Linkspartei weithin ein kollektives Beschweigen der Geschichte. Das halte ich für falsch. Deswegen fehlt mir für die Rede vom „Übergang in die Normalität“ das Verständnis. Als Bischof fühle ich mich besonders dazu verpflichtet, immer wieder darauf hinzuweisen, dass Millionen von Christen unter den Repressionen der SED gelitten haben. Auch darüber muss gesprochen werden. Kollektives Schweigen führt nicht weiter.

Das Gespräch führten Gerd Appenzeller, Claudia Keller und Gerd Nowakowski.

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