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Berlin: Hannah Kroner-Segal (Geb. 1920)

„Dance first. Think later. It’s the natural order“

Am Morgen hatte sie sich geschminkt. Auf die Lippen ein kräftiges Rot, über die Augen einen braunen Lidstrich, hinter die Ohrläppchen einen Tropfen Parfüm. Sorgfältig hatte sie ihr kastanienbraunes Haar toupiert, Schmuck angelegt und mit Bedacht die zur Hose passende Seidenbluse gewählt. Als habe sie noch sehr viel vor, am letzten Tag ihres Lebens.

Hannah war keine von denen, die sich gehen lassen, die sich als grau und verhutzelt abschreiben. Mit Ende 80 verliebte sie sich noch einmal. Sie gehörte nicht zu denen, die sich im faden Fluss des Lebens treiben lassen.

Hannah war New Yorkerin seit jenem frühen Sommermorgen 1939, als die „S.S. Rotterdam“, der Ozeandampfer, der die jüdischen Emigranten aus dem alten Europa ins Exil brachte, in den Vereinigten Staaten Anker warf. Doch als Berlinerin fühlte sie sich ihr Leben lang. Laut und nachdrücklich beteuerte sie ihre Zugehörigkeit zu der Stadt, in der sie zur Welt gekommen war, und nichts brachte sie davon ab, weder ihr Ausschluss aus dem Lyzeum, noch das über die Treppe gespannte Schild „Hunde und Juden unerwünscht“, mit dem ihr verboten wurde, auf der Silberterrasse des KaDeWe Tee zu trinken, noch das Schweigen der Nachbarn im Treppenhaus, weder die Zwangsenteignung des väterlichen Betriebs, noch die Versteigerung der Familienmöbel für einen Appel und ein Ei wenige Tage vor der Abreise, weder der Tod ihrer besten Freundin im Konzentrationslager, noch der soziale Absturz ihrer großbürgerlichen Familie in der Emigration. „Berlin, ach Berlin“, seufzte sie sehnsüchtig, wenn sie von ihrer Kindheit in Schöneberg erzählte.

Im Übrigen hatte Hannah sich in New York ihr Little Berlin geschaffen. Ihr Berliner Ehemann hatte die Überlebenden vom Ruderklub Oberspree aufgespürt. Bei den Treffen aß man Rouladen, Königsberger Klopse und Rote Grütze. Man braute seine eigene Berliner Weiße. Und man sprach Deutsch. Zu Weihnachten schmückte Hannah einen Christbaum. Ah, diese Tanne, die sie unter einer Decke verstecken musste, als die künftigen Schwiegereltern ihrer Tochter Evelyn, streng praktizierende Juden, zu einem ersten, förmlichen Besuch kamen. Jahrelang verheimlichte Hannah ihnen, dass sie nicht Chanukka, sondern Heiligabend mit Tannenbaum feierte.

Wenn man im Bayerischen Viertel spazieren geht, kann man bis heute auf jedem Schritt Hannahs Leben vor dem Exil erahnen, soweit die Spuren nicht in den Bombennächten, beim späteren Wiederaufbau oder einfach durch die vergehende Zeit ausgelöscht wurden. Die Höhere Mädchenschule am Barbarossaplatz. Ihr Haus Ecke Grunewald- und Martin-Luther-Straße. Die ramponierte Fassade wurde gerade in einem sonnigen Orange angestrichen, in der strahlenden Farbe, die Hannah so gut stand.

In Berlin hatte Hannah bei dem Schweizer Choreografen Max Terpis Ausdruckstanz gelernt. „Das Tanzen hat mir das Leben gerettet“, sagte sie. Einerseits ist das wörtlich zu verstehen: Gleich nach der Ankunft in New York fand sie Arbeit: Für ein paar Dollar tanzte sie in Varietés in Massachusetts. Nach einigen Jahren gründete sie auf Long Island die „Hannah Kroner School of Dance“. Andererseits im übertragenen Sinn: Der Tanz, die große Leidenschaft ihres Lebens, schlang ein Band um ihr Leben in Berlin und in New York. Wie viele sind zugrunde gegangen, weil das Leben mit dem Exil auseinanderbrach.

Hannah liebte das Diktum von Samuel Beckett: „Dance first / Think later / It’s the natural order.“

Noch mit 93 gab sie, kerzengerade und mit hoch erhobenem Kopf, in ihrer Schule Kurse in klassischem Ballett und Jazztanz. Mit 94 rief sie in ihrem Altersheim der Versammlung von Rollstühlen, Alzheimer und Rollatoren zu: „Wir bewegen, was sich noch bewegen lässt, die Schultern, die Hände, die Finger, den Oberkörper. Zum Tanzen ist es nie zu spät.“

Natürlich fährt sie noch mit 93 Auto, um ihren einstigen Schülern in Broadwaymusicals zu applaudieren. Der Broadway ist so viel länger als der Kurfürstendamm, spottete sie gern. Denn ihre Richtschnur blieb Berlin. Und wenn man ihr Komplimente machte, lachte sie ihr schönes helles Lachen: „Man muss dankbar sein, wenn die Natur mitspielt. Das Tanzen hat mich fit gehalten, dass ich den Fuß noch hochschwingen kann!“

Pascale Hugues. Aus dem Französischen von Elisabeth Thielicke

Pascale Hugues. Aus dem Französischen von Elisabeth Thielicke

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