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Berlin: Hans-Dieter Spille, geb. 1943

Kam eine Möwe von der Ostsee, träumte so vor sich hin. Segelte eines schönen Sonntags im August über die Uckermark, über das kleine Dorf Rittgarten.

Kam eine Möwe von der Ostsee, träumte so vor sich hin. Segelte eines schönen Sonntags im August über die Uckermark, über das kleine Dorf Rittgarten. Schaute nach unten und erkannte Hans-Dieter Spille, wie er da so saß im Schatten einer alten Linde, um sich herum die Schar der Kinder, die alle Sinne auf Empfang gestellt hatten.

Geschichtenerzähler Spille kramte in seiner Phantasie, suchte nach einem Anfang. Da kreischte die Möwe von ganz oben, vorlaut wie immer: Erzähl doch von mir. Wie ich dem Seeräuber Störtebeker seine Mütze stahl. Wie er deshalb seinen Männern befahl, mich zu finden - tot oder lebendig. Und wie sie deshalb jahrelang die Küsten auf und ab fuhren, ohne je wieder ein Schiff zu kapern. Gute Geschichte, dachte Dieter und begann zu erzählen: Kam eine Möwe von der Ostsee ...

Geschichten erfinden konnte er ausgezeichnet. Auch seine Qualitäten als Mitspieler, Herumtoller und Zuhörer hatten sich bald herumgesprochen. Dieter Spille konnte gut mit Kindern und deshalb liebten sie ihn. Simon, der Sohn seiner Lebensgefährtin, hat ihn nie als Stiefvater betrachtet, sondern immer schlicht als Vater, der auf fast alles eine Antwort wusste.

In Rittgarten hatte sich Hans-Dieter Spille zusammen mit seiner Lebensgefährtin einen Platz geschaffen, der viele Bedingungen für ein glückliches, ausgelassenes Leben erfüllte. Ein Fachwerkhaus mit spitzem Dach, das im August hinter dem Tarnnetz der Linden, Birken und Kastanien kaum noch zu erkennen war. Dorthin nahm er an Sommerwochenenden seine liebsten Menschen mit, genoss das Wandern, Radfahren, Baden und Angeln, das Drachensteigen mit seinem leiblichen Sohn Stefan, kurz: die Leichtigkeit des Seins im Schoße der Natur. Im Gedächtnis blieben die Geburtstagsfeiern am 30. Juli, besonders die Feier zum Fünfzigsten. Freunde und Verwandte erinnern sich an eine lange Tafel auf dem Rasen, ein Lachen, Prosten und Reden wie auf den Treffen der grande famille in französischen Filmen.

Daraus entnehmen wir: Dieter Spille war ein Genießer. Und er war ein Anhänger des kalkulierbar-dezenten Abenteurertums. So ist ein Aufsehen erregendes Ereignis aus seiner Zeit als Wehrdienstleistender im Münsterländischen überliefert. Rekrut Spille führte eines Tages Nonnen aus einem katholischen Krankenhaus in die Kaserne. Er wollte ihnen mal die Sanitätsräume zeigen. Viele Jahre später war er mit seiner Gefährtin auf dem Weg an die Ostsee. Bei Dieter Spille wurde ein Fahrtziel, wenn er überhaupt eines definiert hatte, mit Vorliebe über Umwege angesteuert. Einmal war der Umweg ein schlichter Acker, und Spille fuhr sich mitsamt der Familie fest. Ein Traktor zog sie in ihrem Auto wieder raus.

Es gab natürlich auch ein Berufsleben, das sich im lauten Berlin vollzog. Dieter Spille war Psychologe und führte eine eigene Praxis für Psychotherapie. Und er war viele Jahre Landesvorsitzender des Bundes Deutscher Psychologen. Er wollte der Psychotherapie und ihren Patienten ein positives Image verschaffen, weg vom Stigma einer bösen Krankheit, die man sich besser nicht eingesteht. Eine Psychotherapie sollte man sich selbst verschreiben, meinte Dieter Spille, weil sie die Lebensqualität steigert.

Doch statt Therapie für Jedermann wurde das umstrittene Psychotherapeutengesetz eingeführt - und Dieter Spille nach etlichen Jahren im Beruf die Kassenzulassung entzogen. Es begann ein bitterer Existenzkampf, der das optimistische Wesen von Dieter Spille auf eine harte Probe stellte. Vor gut einem Jahr gewann er diesen Kampf und verlor wenige Monate später seine Gesundheit. Diagnose: Krebs. Ein Windrad wollte er im Paradies von Rittgarten noch bauen. Dazu kam er nicht mehr.

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