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Berlin: Hans-Joachim Ballhausen (Geb. 1946)

Mit Plänen behielt er den Überblick, über sich, sein Leben, seine Welt

Hans-Joachim war ein Erklärer. Ruhig, ernsthaft, interessant. So ordnete er die Welt, sortierte sie, wog sie ab. Ob Politik, Geschichte, Technik oder Kinderfragen. Machten sie einen Ausflug, er, seine Frau und seine Tochter, bereitete er sich vor. Wohin ging es, was gibt es da zu sehen, welches Denkmal steht da, wer hat da gewohnt. Mit ihm unterwegs zu sein war eine Bildungsreise. Führte er Freunde durch Berlin, waren sie begeistert. „Kennst du dich aus! Berlin ist deine Stadt, was?“ Ja, Berlin war seine Stadt. Mit sechs kam er mit seiner Familie hierher. Nach Schöneberg, nach Friedenau. Nie woanders.

Hans-Joachim, den alle Hanjo nannten. Am Computer entwarf er Pläne, früher zeichnete er sie auf dem Reißbrett, akribisch, detailliert. Am Schreibtisch baute er sie nach: mit Holz, mit Metall. Stück für Stück ließ er alte Rangierbahnhöfe, alte Betriebsbahnhöfe wiederauferstehen. Dazu kaufte er kleine Waggons und Loks, die er hineinstellte. Auf Landkarten recherchierte er den Verlauf alter Bahnstrecken. Dann sagte er zu seiner Frau: Komm, lass uns auf den Spuren der Neuköllner-Mittenwalder-Eisenbahn wandern. Und schon kraxelten sie durch Neukölln, auf alten Gleisen, abgelegenen Pfaden. Fuhren sie in den Urlaub, schaute er sich hinterher auf den Karten an, wo exakt sie lang gegangen waren. Mit Plänen behielt er den Überblick, über sich, sein Leben, seine Welt.

Landkarten waren seine Berufung, Vermessungstechniker sein Beruf. 40 Jahre arbeitete er im Vermessungsamt Schöneberg. Wie sein Vater, gleicher Beruf, gleiches Amt. Erst war er draußen unterwegs auf den Straßen von Berlin, dann drinnen am Schreibtisch. Mancher langweilt sich vielleicht, Jahrzehnte am selben Schreibtisch, dieselben Kollegen, dieselbe Tätigkeit. Hanjo nicht, von hier aus ordnete er die Stadt. Straße für Straße, Grundstück für Grundstück. Das war seine Aufgabe, die ihn erfüllte. Das war die Beständigkeit, die er brauchte.

40 Jahre lang führte ihn sein erster Gang am Tag an den Briefkasten, Treppe runter, Zeitung holen, Treppe wieder rauf. Dann saß er am Küchentisch, mit einer Tasse Kaffee und schimpfte über die Rechtschreibfehler, von denen es immer mehr zu geben schien.

Der Schrebergarten, das Ferienhaus in der Lüneburger Heide, die Freunde, die sich einmal die Woche zum Stammtisch trafen und sogar zusammen verreisten. Der beste Freund. Das waren die beständigen Koordinaten seiner Lebenskarte. Die wichtigsten überhaupt aber waren seine Frau Brigitte und seine Tochter Hanne.

Brigitte. Seine Liebe beschwor er nie mit großen Worten. Ein „Ich liebe dich“ kam nicht über seine Lippen. Sie wusste es ja auch so. Denn Hanjo zeigte es anders. Hanjo war da. Er interessierte sich für sie, hörte ihr zu. Er war es auch, der nach ihrem ersten Aufeinandertreffen ihre Nummer aus dem Telefonbuch raussuchte und sie anrief. Sie gefiel ihm und er gefiel ihr. Seine Ruhe. Wie klug er gesprochen hat. Wie er Touristen in fließendem Französisch den Weg erklären konnte. Dann diese Baskenmütze, die er immer trug. Behutsam lernten sie sich kennen. Am 1. Mai 1980 hielten sie das erste Mal ihre Hände. Abends war das, in einem Weinlokal, die Kellnerin sagte: „Ach, Sie sind wohl frisch verliebt.“

Als sie dann schwanger war, hat er lange überlegt, ob er das wirklich wollte. Kinder sind so unberechenbar, unbeständig, passen nicht zu ihm, zu seiner Ruhe. Brigitte wurde schon nervös, legte sich schon zurecht, wie sie es ohne ihn durchziehen könnte. Da sagte er: Du ziehst zu mir, wir werden eine Familie.

So machte er es oft, rang still mit sich, bis er sich entschieden hatte. Mit seiner Tochter Hanne ging er dann Dampfloks gucken, Eisenbahnausstellungen besuchen. Als Hanne selbst ein Kind bekam, telefonierten sie viel. Er hörte ihr zu, war für sie da.

Familie. Beruf. Manchmal aber, wenn Hanjo für sich sein wollte, setzte er seine Kopfhörer auf und hörte die Stones, Pink Floyd, Led Zeppelin. Dann wippte er mit dem Kopf und träumte, dann war er weit, weit weg. Wer weiß, wo, wer weiß wie? Wild tanzend vielleicht, alles rauslassen, all die angestauten Gefühle, all die Ruhe.

Das vermisste Brigitte schon manchmal, das Abenteuer, die Aufregung. Aber so war Hanjo ohne Kopfhörer eben nicht.

Vor 17 Jahren wurde er krank. Erst war es der Darmkrebs, dann die Prostata, dann das Herz, dann Metastasen. All das hielt er aus, es ging ja immer weiter, irgendwie. Doch als er nicht mehr sehen konnte, als die Handschrift, sonst immer akkurat, nur noch über das Papier wackelte, da weinte er. Zum ersten Mal. Hanjo wollte doch leben, mit seinen Enkel in die Heide fahren, Eisenbahnen bauen. Als es nicht mehr ging, als er ins Hospiz musste, war er böse. Es würde doch noch besser werden.

Da stand er nun, im Gang, am Abend, musste sich verabschieden, beugte sich zu seiner Brigitte vor und flüsterte ihr ins Ohr: „Ich lieb’ dich.“

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