zum Hauptinhalt

Berlin: Harald Strätz

Warum sollte ausgerechnet in der Großstadt seine Sehnsucht gestillt werden?

Das Ende war ein Schock für alle, die ihn kannten: die Nachricht, man habe ihn tot in seiner Wohnung gefunden. Man hatte zwar schon seit längerem befürchtet, dass es nicht gut ausgehen könnte mit ihm, solche Gedanken aber immer wieder beiseite geschoben. Viele hatten ihn gemocht, den Mann, der über vieles Bescheid wusste, sich für vieles interessierte, der belesen war, witzig und eine angenehme Begleitung für Kino, Konzert oder literarische Veranstaltungen.

Er sprach nicht über die Alkoholsucht, gegen die er seit Jahrzehnten ankämpfte, und der er in der letzten Zeit immer häufiger erlegen war. Würden die Leute seine Rückfälle nicht allein als Willensschwäche betrachten? Wer würde verstehen, dass nicht die sichtbare Sucht sein eigentliches Problem war, sondern eine darunterliegende, tiefere, die Sehn-Sucht nach dem einen, wirklich nahen Menschen, die er immer, wenn sie übermächtig wurde, betäuben musste.

Der Anfang war so, wie ihn viele in jener Zeit erlebt hatten, eine Fünfziger- Jahre-Kindheit mit Mutter, Vater und zwei Jahre älterem Bruder in Berlin-Neukölln mit sonntäglichen Badeausflügen nach Grünau und Fußball auf der Straße. Oder waren schon damals die Weichen gestellt worden? Harald, schmächtiger und sensibler als sein Bruder, erkrankte an Schilddrüsen-Tbc und musste für ein Jahr in ein Kinderheim an die Nordsee. Das Reglement war streng, die Eltern durften ihn nicht besuchen. Als er heimkam, sprach er nicht mehr, und als er die Sprache schließlich wiederfand, nur noch stotternd. Das Stottern sollte ihn lebenslang begleiten.

Die Mutter war depressiv, als sie sich das Leben nahm, war er 17. Dennoch lief sein Leben in geordneten Bahnen: Nach dem Abitur eine Ausbildung zum Dokumentar an der TU Berlin, wo er noch einige Jahre arbeitete. Er wurde Vater einer Tochter. Von der Mutter trennte er sich nach kurzer Zeit, blieb ihr aber bis zum Schluss freundschaftlich verbunden. Die Tochter war sein ganzer Stolz, für sie blieb er „der Papa“, auch als er wegen einer neuen Arbeitsstelle nach Bonn zog.

Er liebte die Literatur - und er schrieb selbst, nahm am Bachmann- Wettbewerb teil, lebte einige Monate als Stipendiat im Döblin-Haus. Im Suhrkamp-Verlag erschien sein einziges Buch, der Erzählungsband „Frosch im Hals“. Für den SFB schrieb er Radiofeuilletons, ab und an erschienen in der „Zeit“ Artikel von ihm. Was er erlebte, was ihn umgab, notierte er in unzähligen Kladden.

Die Veröffentlichungen seiner letzten Jahre: Artikel und Rezensionen für den „Kieselstein“, die Zeitschrift der Stotterer-Selbsthilfe. Harald Strätz hatte die Vereinigung mit ins Leben gerufen. Er war ein selbstbewusster Stotterer, der sich überhaupt nicht vom Reden abhalten ließ; auch nicht in fremden Sprachen.

Wenn er nach Berlin kam, zog es ihn nach Friedrichshagen in der Bölschestraße. Da war es ruhig, in der Nähe gab es Wald und Wasser. Den Plan, wieder in seine Heimatstadt zurückzukehren, hatte er längst verworfen: zu laut war sie ihm geworden, zu unüberschaubar und zu schmutzig. Und warum sollte ausgerechnet in der Großstadt seine Sehnsucht nach Nähe gestillt werden?

Aber auch in Wiesbaden, wo er zuletzt lebte, überkam ihn oft die Einsamkeit, besonders seit er Rentner war. Darüber sprach er nicht und nur selten über das immer größer werdende Verlangen nach einer festen Beziehung, einer Frau an seiner Seite. Seine vielen Freunde bekamen weiterhin regelmäßig Postkarten und Briefe von ihm, dicke Umschläge mit eigens für sie gesammelten Zeitungsausschnitten.

Nach außen hin blieb er der, der er immer gewesen war, hatte stets einen Witz auf den Lippen und aus einem schier unerschöpflichen Reservoir lustige Spitznamen für die Tochter, die Enkelin und die engsten Freunde.

Hatte er zum Schluss resigniert, geglaubt, dass er es nicht mehr schaffen würde, von der Sucht loszukommen?

Zum 40. Geburtstag seiner Tochter, zwei Tage vor seinem 62., hatte er auf jeden Fall kommen wollen. Und er hatte gesagt, dass er, weil er so jung Vater geworden war und seine Tochter so jung Mutter, es vielleicht noch erleben würde, Urgroßvater zu werden.

Gabriele Treige

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false