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Berlin: Hauptschule mit klarer Ansage

Neuköllner Vorbild: Trainingsraum für Störer, Hausbesuche bei Schwänzern und Treffen mit Senioren

Die Kurt-Löwenstein-Hauptschule liegt im Norden von Neukölln, nahe Hermannplatz und Hasenheide. Die Schülerschaft setzt sich ähnlich zusammen wie an der berühmt gewordenen Rütli: 40 Prozent stammen aus türkischen oder kurdischen Familien, 31 Prozent aus arabischen, zehn aus südosteuropäischen. Der Anteil der deutschen Muttersprachler liegt zurzeit bei 15 Prozent. Fürs nächste Schuljahr sind noch sieben Prozent Deutsche angemeldet, dafür 44 Prozent Araber.

Man könnte annehmen, dass diese Zutaten schon die ganze Geschichte erzählen. Besser aber, man schaut vorbei – um sich angenehm überraschen zu lassen. Denn die Löwenstein hat offenbar das Schlimmste hinter sich: Vor etwa fünf Jahren war auch sie an dem Punkt, an dem kein geordneter Unterricht mehr möglich war. Doch das Kollegium verfasste kein Kapitulationsschreiben, sondern zog für ein Wochenende in ein Hotel, um über Auswege zu beraten. In der Folgezeit begann man auf dreierlei Weise, die Verhältnisse zu ordnen.

Zuerst wurde ein Trainingsraum eingerichtet. Was nach Muckibude für Halbstarke klingt, ist in Wirklichkeit ein nur über den Hof erreichbarer Nebenraum mit Einzeltischen für ein knappes Dutzend Schüler. Zurzeit sitzen vier Jungs in dem Kabuff, dessen Prinzip gerahmt an den ansonsten schmucklosen Wänden geschrieben steht: „Du musst einen Plan ausarbeiten, bevor du in den Klassenraum zurückkehren kannst!“ Die Lehrer an der Löwenstein opfern nicht mehr ihren Unterricht für vergebliche Debatten, sondern schicken notorische Störer in den Trainingsraum. Wer hier landet, muss die Vorgeschichte seines Rauswurfs und seinen eigenen Anteil am Streit notieren. Nächste Frage: „Bist du bereit, dich in der Klasse an die Regeln zu halten?“ Wer Nein ankreuzt, muss es auf einem Blatt begründen. Ansonsten steht der Rückkehrplan an, der letztlich aus dem selbst formulierten Versprechen besseren Verhaltens besteht. Zum Unterricht des jeweiligen Lehrers darf der Störer erst wieder, wenn der Pädagoge den Rückkehrplan abgenickt hat.

Das Prinzip ist allen Beteiligten bekannt – und zwar einschließlich der Eltern, die zudem nach dem fünften Trainingsraumbesuch ihres Sprösslings schriftlich oder telefonisch daran erinnert und zu einem Gespräch bestellt werden. Vergessen können sie das kaum, denn nach Besuch Nummer fünf haben sie ihr – vorläufig suspendiertes – Kind zu Hause. Nach dem siebten Trainingsraumbesuch schließlich wird über Sanktionen beraten, notfalls muss der Störer die Schule wechseln. 13 solcher Klassenkonferenzen gab es 2004/05. Insgesamt haben 200 der gut 300 Löwenstein-Schüler mindestens einmal den Trainingsraum gesehen; fast die Hälfte übrigens Mädchen.

Die Befürchtung, dass die ganz Abgebrühten statt in den Trainingsraum einfach nach Hause gehen, kann Schulleiter Detlef Pawollek zerstreuen: Wer schwänzt, muss bei der Rückkehr ohnehin mit seinen Eltern antanzen.

Paul Kleinert sorgt dafür, dass das klappt. Mit seinem Bart und dem freundlichen Lächeln wirkt der Sozialarbeiter wohl harmloser, als er ist. „Schuldistanziertenarbeit“ heißt seine Hauptbeschäftigung. Tag für Tag schwingt er sich aufs Rad und klingelt die Eltern von Schulschwänzern heraus. Trifft er niemanden an, hinterlässt er eine schriftliche Selbsteinladung. In diesem Brief taucht auch das Wort „Jugendamt“ auf. Das wirke Wunder, sagt Kleinert, der Dolmetscher für Türkisch und Arabisch aus dem Kiez rekrutiert. Selbst die für ihn kaum erreichbaren arabischen Clans und südosteuropäische Analphabeten würden das Wort als Alarmsignal erkennen. Zu Recht, dank guter Drähte kann Kleinert die Familien oft mit einem Amtsmitarbeiter im Schlepptau besuchen. In einer Tabelle hinter ihm an der Bürowand ist jeder dokumentiert – inklusive Datum jedes Briefs und Durchwahl des jeweiligen Bearbeiters beim Jugendamt. Die Quote der Schüler, die Kleinert in geordnete Verhältnisse bringt, liegt bei 68 Prozent. Manche kehren zurück, andere wechseln die Schule, einige können in Tageseinrichtungen einen Abschluss erreichen. Manche holt man so aus ihrer Gang heraus.

Der Sozialarbeiter schaut nicht blauäugig auf die Neuköllner Verhältnisse. Aber statt sich in Bitterkeit zu hüllen, hat er ein dichtes Netz durch den Kiez geknüpft. „Löwentower“ heißt das Stichwort, das für sinnvolle Beschäftigung im nahen Kinderclubhaus steht. Lehrer, Förderverein, Quartiersmanagement, Jugendförderung und Deutsch-Türkischer Unternehmerverband, Kirchengemeinde und andere lokale Einrichtungen sind dabei – und bald auch ein Seniorentreff. Die deutschen Rentner sollen vor dem Schulgebäude nicht länger die Straßenseite wechseln. „Die Kids sind nicht so übel wie ihr Ruf“, sagt Kleinert. 17 interessierte Schüler kamen zum Kennenlern-Treffen mit einer lokalen Seniorengruppe. Bald darauf wagten sich sieben Rentner in die Schule, um mit den Jugendlichen zu kochen und Musikinstrumente auszuprobieren. Wie es aussieht, scheint sich eine Kerngruppe von etwa 14 Schülern herauszubilden. Mit der haben Kleinert, Pawollek und die Lehrer noch viel vor: Sie könnten den alten Leuten bei kleineren Reparaturen im Haushalt zur Hand gehen und dabei etwas lernen, das ihnen eines Tages bei der Jobsuche helfen mag. Wer seinen Kiez kennt, zerschlägt ihn nicht, sagt Kleinert. Und wer die Kinder kennt, stempelt sie nicht ab. Noch sind die Erfolge schwer messbar. Aber den Punkt, an dem es nicht mehr einfach weitergehen konnte, hat die Löwenstein-Schule hinter sich gelassen.

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