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© Doris Spiekermann-Klaas

Hauptstadt im Advent: Endlich angekommen - in Berlin

Advent bedeutet Ankunft: Schon mehr als sieben Millionen Menschen reisten dieses Jahr nach Berlin. Doch wie ist es am Flughafen oder Bahnhof, wenn man fremd ist? Und wie fühlt sich die unbekannte Stadt an?

Die Melodie der Ankunft ist ein Rattern. Am Busbahnhof, Bahnhof und Flughafen ist es allgegenwärtig. Da kommen sie an, den rollernden, schabenden Trolley am Hacken. Oft überraschend zielstrebigen Schritts, die Gesichtszüge geknautscht von der Reise, den Blick leicht fragend und der Zukunft zugewandt. Reisende in der Adventszeit. Mehr als sieben Millionen Touristen kamen in Berlin dieses Jahr an, von Neuberlinern oder Geschäftsreisenden ganz zu schweigen. Advent ist Lateinisch und bedeutet Ankunft. Und so kommt man in Berlin an.

Morgens auf dem Zentralen Omnibusbahnhof am Funkturm ist es griesegrau. Rund 1,5 Millionen Menschen reisen hier im Jahr an und erblicken zuerst die Wartehalle und sonst nicht so viel. Kein Schild weist den Weg zur U-Bahn. Dafür schaukeln am Tannenbaum lustig die Kugeln im kalten Wind. Der Bus aus Amsterdam ist eine Stunde früher als geplant da, der aus Paris dafür eine Stunde später dran. Kein Wunder, dass drinnen im orangefarbenem Siebzigerschick der spröden Halle kaum Abholer auf Ankommende warten.

Dann brummt der Bus aus Paris heran. Abends zuvor ist er dort gestartet. Und heraus purzeln um die 20 übernächtigte Gestalten. Eine ist Gretel, 19, Studentin aus Australien, gerade in Paris zu Hause und zum dritten Mal auf Berlin-Besuch. Cool und schön billig sei es, hier mit dem Bus anzukommen, sagt sie. Und dass die Stadt für Fremde leicht zu lesen sei, „das Zeichensystem ist gut“. Dass Berlin einfach und preiswert zu bereisen ist, glaubt auch Christian Tänzler von Berlin Tourismus Marketing. Und in Zeiten des Internets gebe es sowieso deutlich mehr gut Informierte als ratlose Ankommende.

Manche sind auch beides gleichzeitig. Am Flughafen Tegel quetschen vormittags ein paar griechische Doktoranden lachend am Ticketautomaten für die Besucherterrasse herum. Gerade sind sie mit der Maschine aus Athen am Terminal A gelandet und flott Richtung Haupthalle und Ausgang gerattert. Nur die Bushaltestelle und den richtigen Ticketverkauf suchen sie noch. Ankommen sei eben immer aufregend und kompliziert, sagt Giorgos Depastas, der mit den anderen Laptopträgern unterwegs zu einem Kongress nach Potsdam ist.

Vor den Piktogrammtafeln in der Haupthalle steht eine elegante Frau und legt die Stirn in Falten. Irina Kosenkova ist 25, kommt aus Moskau, handelt riskant mit Devisen und überlegt, ob sie doch lieber nach Lyon fliegen soll, statt nach Berlin hineinzufahren. Im Juli hat sie hier ihren Freund besucht, aber nun herrscht dicke Luft. Er will sie nicht sehen. Und extra ins Hotel? Irina zweifelt. Sie fühle sich hier sonst aber willkommener als in Frankreich oder daheim in Russland. „Die Menschen sind freundlich, sprechen Englisch und sind hilfsbereit“, sagt sie und schaut verloren auf die vorbeiratternden Ankommenden. Allein im Oktober waren es knapp 700 000 in Tegel.

Ratlos in Berlin ist auch ein hochgewachsener, weißhaariger Herr mittags am Hauptbahnhof. Suchend passiert er den Weihnachtsbaum in der Haupthalle, ein Bremsklotz in der Hektik, stockt, dreht sich hierhin und dahin und hält schließlich auf den Servicepoint der Deutschen Bahn in der Vorhalle am Europaplatz zu. Pensionär ist er, aus Wismar, und mit Freunden zum Kulturwochenende in Berlin verabredet. Darauf freut er sich, den Bahnhof erlebt er als kalt und unübersichtlich. Das gehe vielen älteren Ankommenden so, sagt Christine Doerck von der Bahnhofsmission im ersten Stock. Sie kümmert sich mit drei freundlichen Zivis um Kinder, Alte, Wartende, Gestrandete. Am Tag zuvor sei erst wieder einer da gewesen, schüttelt sie den Kopf. Angereist vom Schwarzen Meer, keine Puseratze in der Tasche und ohne Idee, wie’s weitergehen soll. Immer mehr würden das, von überall her, meist junge Männer. Verzweifelte Glückssucher, unterwegs auch im Advent.

Grau, steinern und metallisch ist Berlin im tiefen Untergeschoss des Bahnhofs, wo gerade der Intercity aus Schiphol einfährt. Einer von 260 Fernzügen am Tag. Die Neuankömmlinge schockt das nicht. Zwei Paare, Mittvierziger, schauen kurz auf die Piktogramme, rattern mit ihren Koffern zur Treppe, rollen hoch, stapfen vorbei an „Blume 2000“ und „Mc Paper“, betrachten grinsend ein paar Buddy-Bären und legen am Reisezentrum einen Boxenstopp ein. Das sei kein Bahnhof, sondern ein Einkaufszentrum, stellen die Amsterdamer fest, die in Berlin ihre lange Freundschaft feiern wollen.

„Hier ist ja gar keiner fett“, staunen nachmittags zwei Studentinnen, die aus Prag in einem Hostel in Mitte eingetroffen sind. Tschechinnen? Nein, Charlotte und Rebecca sind aus Perth in Australien und gerade auf einem sechswöchigen Trip durch Europa. Berlin überrascht die Neuankömmlinge, weil es ganz anders bebaut ist als Wien und Prag. Blöd kalt sei es, das schon, aber eine gute Stadt zum Feiern und aufregend, weil sie Orte wie den Checkpoint Charlie oder das Jüdische Museum, die sie aus der Schule kennen, wirklich und wahrhaftig sehen können. Am Brandenburger Tor waren sie schon. Und wie klappt’s mit der Orientierung? Kein Problem. Ein Stadtplan ist notwendig, aber sonst heißt es unisono: „Ihr habt hier ein paar gute Systeme – Bus, Bahn und besonders die Mietfahrräder.“

Abends sieht der Zentrale Omnibusbahnhof viel wohnlicher aus als morgens. ICC und Funkturm nicken angestrahlt herüber, auf dem Messedamm tröpfelt der Verkehr, die Kerzen am Tannenbaum leuchten und die Ankommenden rattern nicht mehr so fluchtartig wie morgens davon. In den Bussen ist aber immer noch nicht das drin, was draufsteht.

Aus dem aus Prag klettern zwei Argentinier um die dreißig, Rucksacktouristen aus Buenos Aires, er Schauspieler, sie Ärztin. Vier Tage wollen sie Berlin erkunden, dann weiter nach Amsterdam, Stockholm, London, Barcelona – puh, was für ein Pensum. Und wo steckt der am weitesten gereiste Bus von allen? Aus Moldawien, genauer gesagt aus Chisinau, braucht er 31 Stunden bis Berlin. Wer da wohl drin sitzt und der Ankunft in Berlin entgegenfiebert? Pustekuchen, der war schon vor zwei Stunden da, sagt die Leitstelle. Könne genauso vorkommen wie ein Tag Verspätung. „Der muss ja auch jede Menge Grenzen passieren.“

Grenzen überschreiten, bereit sein für Überraschungen, in der Fremde ankommen, in Berlin. Advent heißt Ankunft. Eigentlich natürlich religiös gemeint, als Zeit der Vorbereitung und des Wartens auf die weihnachtliche Geburt von Jesus Christus, Gottes Sohn, Erlöser. Eine hoffnungsfrohe Zeit.

So wie bei Ivonne Shelbayih, 39, die seit Montag in der Geburtsklinik des Urbankrankenhauses auf die Ankunft ihres Kindes wartet – eines von etwa 2500 Neugeborenen in ganz Berlin pro Monat. Aischa soll die Kleine heißen. Mann, Freunde und sechs Geschwister fiebern ihr entgegen. Ein Geschenk sei Aischa, strahlt die gelernte Kinderkrankenschwester, und jedes Kind anders, neu und aufregend. „Vielleicht kommt sie ja noch heute“, sagt sie, einen Anflug von Ungeduld in der Stimme. Aber erst mal wolle sie noch ein Käffchen schlürfen mit einer Freundin. Im Vorbereitungszimmer ist es still und kuschelig – kein Rattern weit und breit.

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