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Berlin: Hedwig Döhler (Geb. 1910)

Sie gab ihren DDR-Ausweis ab, packte den Koffer und zog nach West-Berlin

Am 18. Mai 2010 feiert Hedwig Döhler ihren 100. Geburtstag. 25 Gäste kommen ins „Laurus“ in der Pankower Mühlenstraße, bringen Blumen, eine Brosche, Wein und ein Aquarellporträt, das ein Choriner Künstler von ihr gemalt hat. Ihr ältester Sohn hält eine Rede, vielleicht ein bisschen zu kurz, aber sonst tadellos. Ihr jüngster Sohn lebt seit acht Jahren nicht mehr. Klaus Wowereit schickt einen Gruß und 50 Euro, Horst Köhler eine Urkunde. Alle essen, trinken, plaudern. Gegen elf werden die ersten müde. Hedwig bestellt sich ein Gläschen „Danziger Goldwasser“, auch wenn der Likör schon lange nicht mehr dort im Osten, wo sie zur Welt kam, gebrannt wird. Um halb zwei, die letzten Gäste sitzen ermattet am Tisch, sagt sie munter, jetzt sei es an der Zeit, ins Bett zu gehen. Am nächsten Morgen steigt sie zu ihrer Tochter ins Auto und fährt für vier Tage an die Ostsee.

Drei Monate vor Hedwigs 101. Geburtstag geben die „Flippers“ ein Konzert in der ausverkauften „O2-World“. „Die rote Sonne von Barbados“ singen sie, und alle in der Halle singen mit, auch Hedwig kennt jede Zeile, sie hat 40 CDs der Flippers in ihrem Regal neben den erstklassigen Boxen und der Anlage, in die sie aber meist ihre Kopfhörer stöpselt. Die empfindlichen Ohren der Jüngeren im Haus sollen nicht überstrapaziert werden. Die „O2-World“ bebt, und dann treten die Musiker an den Rand der Bühne und sagen ein paar Worte, nur für Hedwig, die Älteste im Saal.

Eine Woche vor ihrem 101. Geburtstag setzt sie sich in einen gemieteten Bus mit ihrer Tochter und den Cousins und Cousinen und fährt die 800 Kilometer bis nach Masuren. Sie läuft durch ihr Kindheitsdorf und erkennt alles wieder, das Haus, in dem ihre Mutter elf Kinder geboren hat; die zwei Morgen Land, die ihr Vater, ein Schmied, bestellt hatte.

Sie erinnert sich an den Bonbon, den sie jedes Jahr zum Kaisergeburtstag bekam. Und an die Männer, die 1918 zurückkehrten. Sie wäre damals, nach der Schule, gern Schneiderin geworden. Aber die Leute, bei denen sie vier Monate gelernt hatte, gingen weg aus der Gegend. Eine Weile hütete sie die Kinder einer Treuburger Familie. Doch gab es nicht noch etwas anderes, als den Gören die Nase zu putzen und die Schuhe zu binden? Ihre Schwester lebte in Berlin. Warum sollte sie nicht auch ein neues Leben versuchen?

Sie fand Arbeit in einer Pankower Bürstenfabrik, fädelte im Akkord Rosshaare und Schweineborsten durch enge Löcher und kaufte sich nach Schichtende beim Fleischer um die Ecke die Wurst fürs Abendbrot. Erich, ein Kraftfahrer, belieferte den Fleischer. „Na, wieder viel geschafft“, sagte er vielleicht zu ihr. Und beim nächsten Mal: „Wir könnten ja zusammen einen kleinen Spaziergang machen.“ Anfangs zierte sich Hedwig noch ein bisschen. Aber dann sagte sie „Ja“, erst zum Spaziergang, drei Jahre später in der Kirche.

Sie bekam zwei Söhne. Als sie zum dritten Mal schwanger war, musste sie andauernd in die Luftschutzkeller rennen. Im Jahr des Kriegsendes kam ihre Tochter zur Welt.

Sie blieben in Pankow, verbrachten die Wochenenden in ihrem Schrebergarten, pflückten Beeren und Birnen, badeten, fuhren mit den Rädern. Erich spielte Bandoneon und Hedwig Mundharmonika. Sie feierten mit den Nachbarn, einmal im Monat, immer bei einer anderen Familie. Auf einem Foto kniet Hedwig vor einem Steingutkübel voll Bowle, die Schöpfkelle am Mund. Obwohl es ein Schwarz-Weiß-Bild ist, erkennt man, wie ihre Wangen glühen.

Dann wich das Rot. 1958 verließ ihr erster Sohn die DDR, 1960 ihr zweiter. 1961 wurde die Mauer gebaut. 1967 starb Erich.

Und Hedwig wartete. Sie wartete auf ihren 63. Geburtstag, an dem sie Rentnerin werden würde. Wenige Tage nach der bescheidenen Feier lief sie zum Amt und füllte das Ausbürgerungsformular aus. Die Behörde setzte ihren Bewilligungsstempel auf das Papier, sie gab ihren DDR-Ausweis ab, packte einen einzigen Koffer und zog nach West-Berlin.

Sie reiste zu den Söhnen und nach Berchtesgaden, wo sie lernte, wie man bayerische Strümpfe strickt. Sie wurde eine West-Oma, die Pakete in den Osten schickte und mit Geschenken rüberkam. Sie zog, nach der Maueröffnung, wieder zurück nach Pankow, in das Haus ihrer Tochter. Sie war immer tipptopp gekleidet und sagte (ihr 90. Geburtstag lag schon Jahre zurück): „Wir müssen mal wieder einkaufen gehen, ich brauche neue Pullover.“ Sie probierte neue Rezepte aus. Sie rauchte hin und wieder eine Zigarette.

Am 18. Mai 2011 schickt Klaus Wowereit einen Gruß und 50 Euro, Christian Wulff eine Urkunde. Am 18. Mai 2012 kommt die Urkunde von Joachim Gauck.

Eine Woche vor ihrem 103. Geburtstag stirbt Hedwig. Ihre Tochter fragt den Organisten, ob es möglich ist, ein Lied der „Flippers“ auf der Kirchenorgel zu spielen. Er stimmt zu. Ein wenig schleppend, aber trotzdem schön, hört die Trauergemeinde „Die rote Sonne von Barbados“. Tatjana Wulfert

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