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Diakonie

© Kitty Kleist-Heinrich

Heiligensee: Unruhe um die neuen Sorgenkinder

Im Diakoniezentrum Heiligensee soll ein Internat für Problemschüler entstehen - Anwohner sind skeptisch. Am Montag kamen deutsche und französische Minister.

Jennifers Zimmer sieht aus wie die anderer Mädchen in ihrem Alter. Da hängen Poster an der Wand, Manga-Comicfiguren, Popstars. Und doch ist etwas anders. Jennifer hat die Jalousien heruntergelassen, obwohl helllichter Tag ist. „Ich fühle mich so einfach wohler“, sagt die 15-Jährige. Seit zwei Jahren lebt Jennifer in einer betreuten Jugendwohngruppe, und so schnell wird sie wohl nicht in ihr altes Zuhause in Reinickendorf zurückkehren. „Ich habe meine Mutter angepöbelt, ich bin zu anstrengend für sie“, sagt sie. Schon viel hat sie dazugelernt, auch ein gesundes Maß an Selbstkritik, seit sie im Diakoniezentrum Heiligensee zu Hause ist.

Gestern gehörte das „Dia“, wie die Einrichtung hier genannt wird, zum ministeriellen Besuchsprogramm des deutschfranzösischen Gipfeltreffens. Und im Mai nächsten Jahres werden Jennifer und die anderen Bewohner und Mitarbeiter neue Nachbarn bekommen. Berlins erstes Internat mit Jugendhilfebetreuung für benachteiligte Schüler soll auf das Gelände ziehen. Seit die Pläne des Trägers, der diakonischen EJF-Lazarus Gesellschaft, bekannt wurden, sind viele Anwohner in Sorge – wie vor zwei Jahren, als Protest ein Projekt für sexuell auffällige Jugendliche auf dem Gelände verhinderte. Auch diesmal bezweifeln die Nachbarn, dass die Gegend ein weiteres Sozialprojekt verkrafte. 1650 Menschen leben oder arbeiten im Diakoniezentrum zwischen S-Bahnhof Schulzendorfer Straße und Tegeler Forst. Was dort genau passiert und was im neuen Internat geplant ist, will EJF den Anwohnern in Infoveranstaltungen bekannt machen, sobald die Finanzierung des Projekts steht.

Keine Mauern, keine Zäune – alles im „Dia“ ist offen zugänglich, wie der Bioladen „Doppelkorn“ und die Sparkassen-Filiale. Wer sich in Heiligensee nicht auskennt, bemerkt gar nicht, dass er sich inmitten eines hoch spezialisierten sozialen Zentrums befindet. Zahlreiche Wohngruppen gibt es hier, für Jugendliche, für Kinder, für Menschen mit Behinderungen, für alleinerziehende Mütter. 500 Menschen, die (noch) nicht selbstständig leben können, werden von ebenso vielen Fachkräften betreutet. Mittendrin leben 700 Mieter, aus freien Stücken, Menschen wie Gertraud Burandt und Grete Pittack, beide weit über 80 Jahre alt. „Wir finden das toll, dass hier jeder für den anderen da ist“, sagt Helga Warnick, 64. Sogar einen 24-Stunden-Notdienst gibt es für die älteren Bewohner des Servicehauses“, in dem jüngere Mieter ehrenamtlich mithelfen. „Unsere Senioren wollen nicht in einem herkömmlichen Altersheim leben“, weiß dessen Leiter Christian Nestler. „Wir haben aber schon Angst vor dem, was da auf uns zukommt“, sagt Elfriede Wehner, 90, stellvertretend für die anderen Alten.

Schon jetzt gebe es hin und wieder Klingelstreiche, die einen erschreckten, auch werde im Supermarkt nebenan auch mal geklaut. Und schlimm seien „Müll, Scherben, Zigarettenkippen, eingeworfene Scheiben von Straßenlaternen“. Eben all das, was nun mal zum Alltag einer Großstadt gehöre, halten Befürworter des Internats den Kritikern entgegen. Ganz ehrlich, sagt Andrea Pantke, Leiterin des Kinder- und Jugendverbundes im Diakoniezentrum, es gab auch schon einige schlimmere Vorfälle, die sich aber gezielt gegen Eigentum von Mitarbeitern richteten, wie einmal ein beschädigtes Auto. Doch als Kriminalitätshort könne man das „Dia“nun wahrlich nicht bezeichnen. „Neulich haben mal Jugendliche von einem Dach aus Bierflaschen heruntergeworfen. Das waren aber nicht unsere, die kamen aus der Umgebung.“ Und, sagt Frau Pantke, „diejenigen, für die das Wohnprojekt mit Rund-um-die-Uhr-Betreuung gedacht ist, sind in der Regel sieben bis zwölf Jahre alt, nicht gerade ein Alter, das einen in Angst und Schrecken versetzt“.

Wie berichtet, sollen die 16 bis 18 Mädchen und Jungen – Schulverweigerer, von ihren Eltern vernachlässigt, von Verwandten missbraucht, von der Gesellschaft vielfach links liegen gelassen – in zwei Wohngruppen von Lehrern und Erziehern betreutet werden. Sie sollen in den Häuserkomplex nahe von Jennifers Zuhause ziehen. Mit Lottomitteln werden getrennte Zugänge gebaut, damit es ein eigener Bereich wird. An den Wochenenden sollen die Eltern ihren Nachwuchs abholen, auch sie bräuchten Nachhilfe – in intensiver Elternarbeit ist das Zentrum erfahren.

Bislang haben viele der Kinder die Schule geschwänzt – im „Dia“ sollen sie nun gemeinsam von Erziehern und Eltern darin unterrichtet werden, endlich einen strukturierten Tagesablauf zu bewältigen. „Wir haben jetzt schon viele Anfragen nach Plätzen, von Jugendämtern aus ganz Berlin“, sagt Michael Piekara, Jugendhilfereferent von EJF-Lazarus. Wohl auch deswegen, weil das komplexe Angebot für die Ämter sogar billiger sein wird als ein herkömmlicher Heimplatz.

Von all diesen Angeboten für Kinder mit fehlender „sozial-emotionaler Kompetenz“, wie es im Sozialarbeiterdeutsch heißt, weiß Frank Leroy nichts. Der junge Vater holt gerade seinen Sohn von der Kita „Regenbogen“ im Diakoniezentrum ab. „Wir Eltern haben davon gehört, wissen nichts Genaues und sind deshalb schon in Sorge“, sagt der 35-Jährige. Als er Details erfährt, sagt er, „abmelden werde ich mein Kind deswegen nun nicht“. Auch eine Nachbarin aus dem Bisonweg weiß vieles nur vom Hörensagen. „Ich finde diese Projekte eine ganz tolle Sache. Ich befürchte nur, dass das Diakoniezentrum so viele schwierige Gruppierungen auf engstem Raum nicht verträgt.“ Vor einigen Jahren waren es aber noch weit mehr, hält der stellvertretende Leiter der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen, Ulrich Ehlert, dagegen. Einst wurde das „Dia“ als Einrichtung für „gefallene Mädchen“ gegründet. Da habe es auch schon viele Diskussionen gegeben.

Eine Straße in Heiligensee unweit des Diakoniezentrums heißt Spießergasse, das reizt einige Mitarbeiter schon mal zum Witzemachen, obgleich sie die Sorgen der Anwohner nachvollziehen können. Sie selbst haben keine Befürchtungen, zumal es doch schon jetzt ein funktionierendes Schulprojekt im „Dia“ gibt, für benachteiligte Mädchen wie Jennifer.

Die 15-Jährige und ihre 17-jährige Mitbewohnerin Martina, identifizieren sich jedenfalls mit dem Diakoniezentrum. „Wir sind die beste Gruppe hier“, sagt Martina voller Stolz. Annette Kögel

Annette Kögel

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