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Berlin: Heim soll Patienten künstlich hinfällig gemacht haben

Wurden Kranke für höhere Pflegestufe mit Arznei manipuliert? Träger weist Vorwurf zurück

Ein ungewöhnlicher Fall von Körperverletzung beschäftigt die Berliner Staatsanwaltschaft. Im Krankenpflegeheim des Berliner Lazaruswerks soll Patienten gezielt ein Neuroleptikum verabreicht worden sein, um ihre Vitalität bei der Begutachtung und Untersuchung des medizinischen Dienstes herabzusetzen. Durch diese Manipulation soll sich das Heim die Einstufung der Patienten in eine höhere Pflegestufe erhofft haben, so die Vorwürfe des Berliner Ersatzkassenverbandes VdAK, die er gestern öffentlich machte. Die Patienten sollten einen möglichst hinfälligen und pflegebedürftigen Eindruck auf die Gutachter machen, sagt die Ermittlungsstelle gegen Abrechnungsbetrug des Ersatzkassenverbandes. Patienten, die für die Einstufung in eine höhere Pflegestufe einen zu gesunden und vitalen Eindruck machten, sollen vor einer Begutachtung das Medikament „Dipiperon“ bekommen haben.

Dipiperon ist ein mittelstarkes Beruhigungsmittel, das häufig gegen Verwirrtheit und psychotische Störungen eingesetzt wird. Die Patienten wirken müde und benommen und sind – je nach Dosierung – schwer ansprechbar. Auch motorische Nebenwirkungen, die an Parkinson-Patienten erinnern, können auftreten. Gerade ältere Menschen reagieren häufig extrem empfindlich auf Dipiperon. Zu den unerwünschten Nebenwirkungen gehören auch Blutdruckabfall und Kreislaufstörungen.

Der Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft, Jürgen Just, bestätigte gestern, dass wegen dieses Sachverhalts ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung und Betrug läuft – in mehreren Fällen und gegen mehrere unbekannte Personen. Anlass war eine anonyme Anzeige vom September 2006. Im Zuge der Ermittlungen sei auch im vergangenen November eine Hausdurchsuchung durchgeführt worden.

Der Betreiber des Heims in Gesundbrunnen, in dem 238 pflegebedürftige Kranke versorgt werden, weist die Vorwürfe weit von sich. Es habe zwar tatsächlich eine anonyme Anzeige gegeben, bestätigt Hans-Uwe Stephan, Vorstandsmitglied des Trägers Evangelisches Jugend- und Fürsorgewerk (EJF) Lazarus gAG. Die darauf folgenden Ermittlungen hätten ergeben, dass in einem Einzelfall eine Mitarbeiterin tatsächlich einer Patientin das Medikament verabreicht hatte. Die Mitarbeiterin sei sofort freigestellt worden. „Das war ein Einzelfall und keinesfalls flächendeckende Praxis in unserem Heim“, sagt Stephan. Man habe gemeinsam mit der Berliner Heimaufsicht ein neues Kontrollsystem eingerichtet, um künftig solches Fehlverhalten von Mitarbeitern zu verhindern. Eine Nachprüfung des Heimes durch die Berliner Heimaufsicht und den medizinischen Dienst der Krankenkassen im Januar habe keinerlei Mängel gezeigt, sagt Stephan. Die Hausdurchsuchung durch die Staatsanwaltschaft im Zuge der seit einem halben Jahr laufenden Ermittlungen sei deshalb auch unverständlich. Zu keinem Zeitpunkt habe es von der Heimleitung auch nur im Ansatz eine derartige Anweisung gegeben, die Patienten mit diesem Mittel zu behandeln, um eine höhere Pflegestufe zu erreichen.

Die Einstufung in eine höhere Pflegestufe bringt den Heimen bares Geld. Der Unterschied zwischen Pflegestufe II und III beträgt beispielsweise 153 Euro pro Monat. Karl-Heinz Resch, der Geschäftsführer des VdAK Berlin, ist über diesen aus seiner Sicht, schweren Fall von Körperverletzung und Abrechnungsbetrug erschüttert. Es gehe hier nicht nur darum, den materiellen Schaden der Krankenkassen und Versicherten zu verhindern. Vor allem müssten Patienten und alte Menschen vor den Übergriffen in Pflegeheimen geschützt werden.

Vor diesem Hintergrund sei die Arbeit der VdAK-Ermittlungsstelle gegen Betrügereien im Gesundheitswesen besonders wichtig. Gerade in der Altenpflege sei zuletzt eine Lawine von Betrugsdelikten registriert worden. In Berlin und Brandenburg bearbeiteten die VdAK-Ermittler im letzten halben Jahr 125 Verdachtsfälle. So würden etwa in der häuslichen Alten- und in der medizinischen Krankenpflege häufig ungelernte Kräfte eingesetzt, die nicht über die notwendige Ausbildung verfügen. Für diese anspruchsvolle Arbeit ist von Rechts wegen nur examiniertes Fachpersonal zugelassen. „Was hier teilweise auf die Menschheit losgelassen wird, ist erschreckend“, sagt Michael Redel, der Leiter der VdAK-Ermittlungsstelle.

Ein Fall von systematischer Beschäftigung unqualifizierten Personals beschäftigt die Gerichte. Eine inzwischen in Insolvenz gegangene Einrichtung der häuslichen Krankenpflege mit mehr als 20 Angestellten hatte gleich eine ganze Reihe ungelernter Kräfte angestellt, darunter auch Personen, die noch nie im Gesundheitsbereich beschäftigt waren. Obwohl die Verstöße offenkundig waren, kam es bisher nicht zu einer Verurteilung. Die Krux: Die Ermittler müssen im Einzelfall nachweisen, wann und wo die ungelernten Kräfte konkret zur medizinischen Betreuung eingesetzt waren. Wenn die medizinischen Unterlagen durch einen „plötzlichen Wasserschaden“ bei den Beschuldigten vernichtet sind, ist dieser Nachweis schwer zu erbringen.

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