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Berlin: Heinrich Meierkord, geb. 1919

In Peru wachsen die Bougainvillea-Pflanzen meterhoch. Heinrich Meierkord steht mit seiner Frau Erika davor und ist wie gelähmt von dem Anblick.

In Peru wachsen die Bougainvillea-Pflanzen meterhoch. Heinrich Meierkord steht mit seiner Frau Erika davor und ist wie gelähmt von dem Anblick. Dieses Rot-Violett, diese Blütenform - ein bisschen wie die Weihnachtssterne daheim in Deutschland. Und doch so unendlich viel schöner.

61 Jahre ist er alt, als er 1980 das erste Mal eine so weite Reise mit seiner Frau macht. Vier Wochen lang fahren die beiden durch das Land an der Pazifik-Küste. In Peru, da kommt der Bus, oder er kommt eben nicht. Heinrich Meierkord sitzt oft mit seiner Frau auf einem Bordstein am Straßenrand in der sengenden Sonne und wartet. Manchmal stundenlang. In Deutschland muss der Bus pünktlich an der Haltestelle sein. Da fangen die Leute an zu mosern, wenn der Fahrer mal eine Minute später um die Ecke biegt. Heinrich Meierkord genießt Peru, das Land, in dem es nicht so drauf ankommt.

Da ist es so anders als daheim, im westfälischen Lemgo. Zehn Jahre, 1980 bis 1990, wohnen die Meierkords in dem Nest. Da mischen sich die Nachbarn überall ein. Als die beiden Rentner an einem Sonntagvormittag ihre Wohnung verlassen, um einen großen Spaziergang zu machen, wundern sich die Leute von nebenan: "Sie gehen jetzt spazieren? Bereiten Sie denn gar nicht den Sonntagsbraten zu?"

Heinrich ist mit seiner Frau weg aus Berlin gezogen, um hier seine Ruhe zu haben, um das Rentnerdasein genießen zu können. In Berlin mit den sechs Kindern und nochmal so vielen Enkeln war es ihm zu hektisch. Mit Anfang 60 findet er, es sei Zeit für ihn, den Westfalen, wieder heimzukehren. In Westfalen ist er aufgewachsen, dort hat er seine Ehefrau kennengelernt.

Ein Großstadtmädchen, das kam Heinrich Meierkord gerade recht. Dorftrampel, die ihn verehren, kennt der junge, dunkelhaarige Hans Dampf zur Genüge. Nicht umsonst nennen sie ihn den "großen Belami von Klotingen". Hier, in seiner Heimat zwischen Hamm und Soest, trifft er 1941 beim Schützenfest die 17-jährige Erika aus Berlin. Die absolviert gerade ihr Pflichtjahr in der westfälischen 1000-Seelen-Gemeinde. Heinrich fordert das verunsicherte Großstadtmädchen zum Tanz auf, mit stolzer Brust führt der Held des Dorfes sie durch das Festzelt - dabei soll es fürs Erste bleiben.

Erst ein knappes Jahr später sehen sie sich wieder. Erika ist längst in Berlin und Heinrich Soldat, als er Urlaub von der Front bekommt. Auf der Heimreise macht er einen Abstecher nach Berlin, um Erika bei ihren Eltern zu besuchen. Die beiden verlieben sich prompt und stellen drei Tage lang die Stadt auf den Kopf. Noch gibt es keine Sperrstunde, noch können sie sich im Kabarett "Der Komiker" vor Lachen auf die Schenkel klopfen und mit erleuchtetem Gemüt durch die dunklen Straßen ziehen.

Im Dezember 1942 heiraten sie in Kreuzberg. Erika trägt ein weißes Hochzeitskleid aus Fallschirmseide, die sie für vier Pfund Zucker erstanden hat, er die Wehrmachtsuniform. Im Sommer darauf kommt die erste Tochter zur Welt. Heinrich erfährt davon per Post, sehen kann er sie erst ein halbes Jahr später, beim nächsten Urlaub. Als die Deutschen kapitulieren, sind Erika und Heinrich zusammen - in Bayern. Von da gelangen sie irgendwie nach Hause, machen Station auf Bauernhöfen, schlafen in Scheunen im Heu. Wenig später daheim merkt Erika, dass sie schwanger ist. Die zweite Tochter kommt im Frühjahr 1946 zur Welt.

In den harten Nachkriegsjahren schuftet Heinrich als Tischler und bringt so seine Frau und die Kinder durch. Die Familie wohnt im zerbombten Berlin, hier bekommen Tischler-Gesellen an jeder Ecke Arbeit.

Irgendwann wird die schwere Arbeit zu viel für Heinrich. Die Bandscheiben. Der 37-Jährige verliert den Job. Aber das Schicksal meint es gut mit ihm. Über Umwege kann er 1957 endlich das machen, was er immer schon wollte: Mit jungen Menschen arbeiten. Er wird Leiter eines Jugendheims: zuerst in Tempelhof, drei Jahre später im Haus der Gewerkschafts-Jugend in Konradshöhe. Die ganze Familie zieht mit in die Dienstwohnung. Heinrich ist rund um die Uhr im Einsatz: Tennisschläger austauschen, Einkaufslisten erstellen, Bestände kontrollieren. Der ganze Verwaltungskram eben. Die Kinder werden mit eingespannt: Wer den Cola-Automaten auffüllt, darf ein Fläschchen für sich behalten.

Die Kinder sehen ihren Vater zwar ständig, doch viel haben sie nicht von ihm. Immerzu muss er irgendwas organisieren, er trägt die Verantwortung für das Haus. Und wenn er mal Zeit hat, liest er die Tageszeitungen. Seine Hoffnungen setzt er auf Willy Brandt. Heinrich, SPD-Mitglied, ist von ihm beeindruckt. Jahre später, als die SPD eine Bundestagswahl verpatzt hat, sitzt Heinrich Meierkord vor dem Fernseher und heult vor Wut.

Als Heinrich mit seiner Frau 1990 nach Berlin zurückzieht, ist Eberhard Diepgen Bürgermeister. Für lange, lange Zeit. Heinrich mag ihn nicht. Als der Rentner Anfang Juni Blut hustend im Krankenhaus liegt, gibt er einem Freund ein "Grüß mir den Wowereit" mit auf den Weg. "Der Jungspund war mal in einem Zeltlager, das ich betreut habe", erinnert er sich. Den Berliner Machtwechsel am 16. Juni bekommt Heinrich nicht mehr mit. Er stirbt ein paar Stunden zu früh. Wenn Erika die Stelle, an der er beerdigt wurde, besucht, setzt sie sich auf die Bank an der Friedhofslichtung und liest ihrem Heinrich aus der Zeitung vor. Er soll doch wissen, wie es mit den Sozialdemokraten in der Stadt weitergeht.

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