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Berlin: Helga Götze (Geb.1922)

Im ersten Leben war sie „Tussi“. Im zweiten „primäre Tabubrecherin“.

Merken Sie nicht, dass Sie stören, Frau Götze?“, sagte ein Polizist zu ihr auf dem Breitscheidplatz. Da hat sie sich gefreut und verstanden gefühlt.

Ein Kind blieb stehen und hörte der Frau mit dem grauen Kurzhaarschnitt und der bunten Weste zu. Bis die Mutter kam, das Mädchen fortzog und den Kopf schüttelte: „Schweinkram!“ So war es oft.

Helga Götze saß seit 1982 fast jeden Tag auf dem Breitscheidplatz vor der Gedächtniskirche, barfuß mit ihrem Pappschild: „Ficken ist Frieden“. Mit jedem, der sich darauf einließ, sprach sie über Sex, Körper, weibliche Wollust, „übers Ficken“. Selbstverständlich auch mit Kindern, denn mit dem Befreien kann man gar nicht früh genug anfangen.

Frauen, die dafür kein Verständnis hatten, waren für sie „Tussis“, ein Lieblingswort. Tussis waren all jene, die sich im Ehekorsett befanden, die Liebe mit Besitzansprüchen verwechselten, prüde waren, für die Bedürfnisse der Männer lebten, die sich nicht trauten „Schwanz“ zu sagen oder eben „ficken“.

Dabei war auch Helga Götze den größten Teil ihres Lebens eine „Tussi“ gewesen. In Magdeburg geboren, wuchs sie streng behütet auf. Mit zwanzig heiratete sie und bekam sieben Kinder. Man sagte ihr, das müsse so sein. Sei Mutter, sei Ehefrau, sei brav, sei ruhig. Im Album die vergilbten Fotos: Helga streng frisiert im biederen Kleid, in steifer Familienpose. Helga am Herd, ein Kochlöffel aus Holz. Helga in sich gekehrt.

Der Ausbruch kam, als das letzte Kind aus dem Haus war. Der Zeitgeist, 1968 mag eine Rolle gespielt haben. Und der angestaute Frust: In 25 Ehejahren habe sie nicht ein einziges Mal den eigenen Mann nackt gesehen, erzählte sie später, nachts unter der dunklen Decke sei sie Gebärmaschine gewesen, tags nur Mutter.

Auslöser jedenfalls war Giovanni, ihr sizilianischer Liebhaber, mit dem sie ihren ersten Orgasmus erlebte. Helga Götze begann ihr neues Leben ohne Familie, in schonungsloser Offenheit, in Kommunen und in Schwulen-WGs – sie behauptete, dass alle Schwulen bei ihr zu Bisexuellen geworden seien. Gemalte Porträts von Giovanni, ihrem Befreier, und auch von ihrem Ehemann, der sie gehen ließ, hingen bis zuletzt in Helga Götzes Wohnung.

1982 zog sie nach Berlin. In eindeutigen Kontaktanzeigen suchte sie nach Männern, sie zog durch Talkshows, Rosa von Praunheim widmete ihr einen Film. Sie nannte sich „primäre Tabubrecherin“, die Boulevardpresse nannte sie „Deutschlands Supersau“.

Als sie älter wurde und etwas stiller, revoltierte sie in ihrer Charlottenburger Hinterhauswohnung weiter. Sie schrieb für die sexuelle Selbstbestimmung, sie malte und stickte – ihr liebstes Motiv: Sexualorgane, männliche, weibliche, neben mahnenden Zeigefingern. Die Wände ihrer Wohnung waren voll damit. Gegenüber der Couch stand eine Art Altar – für Helga Götze. Vielleicht, um sich immer wieder vor Augen zu führen, dass richtig war, was sie tat. Briefe an sie, Danksagungen, Solidaritätsbekundungen.

Und dann hing da ein neueres Foto von ihr: Eine nackte Frau von über 80 Jahren. Ein bisschen dick, die Haut schlaff. Aber mit der Selbstverständlichkeit eines Supermodels. Der Blick so fest und sicher, dass niemand ihren Glauben angezweifelt hätte, für das einzig Richtige einzustehen. Sie nannte sich „Sophia“, die Weisheit.

Ein Tag Ende August 2007, die Sonne sollte mittags nicht so brennen, da wollte Helga Götze mal wieder zeigen, dass es sie noch gab. Doch noch in ihrer Wohnung fiel sie um. Ein Schlaganfall. Man brachte sie ins Pflegeheim. Kein Ort für eine Helga Götze.

Dabei war es nicht das erste Mal, dass sie eingewiesen wurde. Das erste Mal war es die Dietrich-Bonhoeffer-Nervenklinik gewesen. Damals hatte die Polizei sie wieder mal vom Breidscheidplatz geholt und dorthin gebracht. In der Klinik benahm sie sich, wie sie es in ihrem früheren Leben gelernt hatte: höflich, lieb, zurückhaltend – und man ließ sie wieder gehen. Sie fuhr zum Breitscheidplatz.

Das Heim, in das man sie diesmal brachte, sollte sie nicht mehr verlassen. Elena Senft

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