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Berlin: Helga Müller-Klatte (Geb. 1939)

Eine Dame vom Kurfürstendamm, die ihre Bücher stets selbst führte

Gedämpfte Atmosphäre, ein Geruch von hochwertigem Leder. Zwei Globen auf eleganten Ständern leuchten wie ferne Himmelskörper. In einer Sicherheitsvitrine befinden sich Perlen und Steine, befestigt an Schreibgeräten. Das ist ein Devotionalienladen für die Jünger von Schrift und Papier. Deshalb nennt er sich auch nicht einfach „Schreibwarenhandlung“ sondern „Papeterie“.

In einem Hinterzimmer sitzen der Witwer und der Sohn. Es fällt ihnen nicht leicht, Worte für die Frau zu finden, die dieses Reich geschaffen und verwaltet hat. Der Sohn schiebt ein Foto über den Tisch. „Das ist sie.“ Zu sehen ist eine Dame mit blondem Pagenkopf, cremefarbenem Kostüm und Perlenkette. Sie sitzt hinter einem Schreibtisch und lächelt. „In der Hand hält sie ihren Lieblingsfüllfederhalter, Modell Greta Garbo. Aus Elfenbein, mit einer Perle besetzt.“

Beschämt umklammert die Nachrufschreiberin ihren Kugelschreiber mit abgebogener Klemme und notiert: Das Modell Greta Garbo wurde Helga Müller-Klatte durchaus nicht in die Wiege gelegt, in die man sie als jüngstes von vier Kindern bettete. Ihr Vater war Schriftsetzer, die Mutter Hausfrau. Zu ihren ersten Erinnerungen gehörte das Bild ihrer ausgebombten Wohnung in Stuttgart.

Die nächsten Erinnerungsbilder zeigen ihre älteren Geschwister johlend auf einem Bauernhof, auf dem die Familie für zwei Jahre Unterkunft fand. So bewegt dieser Lebensfilm startet, so gleichmäßig spult er sich nun weiter. Eine Nachkriegsbiografie: Wo eben noch die Erde bebte, wurde eine neue solide Existenz gebaut.

Helga machte eine Ausbildung zur Buchhalterin. „Sie hätten ihre Bücher sehen sollen“, schwärmt der Witwer. „Das waren kalligrafische Kunstwerke!“ In der Buchhaltung zeigt sich die Basis und die Solidität einer Firma. Die Basis und die Solidität zu kontrollieren, war Helga nicht nur Broterwerb, es bedeutete Erfüllung.

1962 folgte sie hochschwanger ihrem ersten Ehemann, einem Vermessungstechniker, nach West-Berlin. Selbstverständlich nicht gelockt von der politischen Atmosphäre in der Hauptstadt der Bundeswehrflüchtlinge, sondern von den Steuervergünstigungen.

Sie bezogen eine Wohnung in Lichterfelde und eröffneten dort eine Schreibwarenhandlung, Silvesterknaller inklusive. Das Paar teilte sich die Arbeit im Laden, die Buchhaltung jedoch gab Helga nicht aus der Hand. Allabendlich saß sie über den Tisch gebeugt und malte die Zahlen, auf denen ihr Leben stand, in ihre Bücher. Starke Zahlen wünschte sie sich, katastrophensichere Zahlen.

Sonntags unternahm die kleine Familie Ausflüge zum Kurfürstendamm. Dann flanierten sie in ihren besten Kleidern an den Schaufensterscheiben vorbei und träumten davon, hier ein Geschäft zu betreiben.

1966 entdeckte Helga einen Schreibwarenladen gleich um die Ecke, in der Uhlandstraße, dessen alte Besitzerin ihren Stab gern an das junge Paar übergab. Wenig später beschloss die Stadt, an genau dieser Stelle ein Parkhaus zu errichten. Helga hatte inzwischen sämtliche Ladenbetreiber der Straße für sich eingenommen. Der Fleischer einige Häuser weiter wollte sein Geschäft sowieso verkleinern, zog eine Trennwand hoch und bot ihr die andere Hälfte an. So lebten Fleisch und Papier harmonisch Seite an Seite, bis der Fleischer 1981 aufgab.

Die Trennwand wurde abgebaut, das Angebot auf ein neues Niveau gehoben. Auf der Suche nach immer neuen Schätzen bereiste Helga die Messen in Frankfurt, Hamburg und Paris, durchstöberte New York. Die Charlottenburger Kundschaft honorierte ihre Mühen zahlkräftig. Diplomaten und Präsidenten aus Ost und West kauften hier ihre Federhalter, ließen sie mit ihren Initialen versehen.

Zwischen den echt ledernen Alben und Schreibtischunterlagen, juwelenbesetzte Schreibgeräten, Büttenpapier und fein gepressten Postkarten behielt Helga selbstverständlich Bodenhaftung. Nach wie vor gab es Radiergummis, simple Glückwunschkarten und eine herzliche Begrüßung für die Nachbarn von nebenan.

Basis und Solidität, ihre Buchhaltung gab sie nicht aus der Hand. Auch nicht, als sie es sich leisten konnte, diese mit dem „Modell Greta Garbo“ zu führen, auch nicht, als die Ehe zerbrach und sie das Geschäft alleine weiterführte, auch nicht, als sie neben der Papeterie zwei Montblanc-Boutiquen eröffnete.

Tag für Tag stand sie selbst im Geschäft. Ihr Wecker klingelte um sechs, vor 21 Uhr kam sie nicht nach Hause. Ihr Sohn lebte bei ihrem zweiten Ehemann und dessen Tochter in Hamburg, wo sie freitags mit dem letzten Flieger hinjettete, um montags mit dem ersten wieder zu starten.

Den Luxus, den sie bot, wusste sie auch selbst zu genießen. Ihr liebster Urlaubsort war ein feines Kurhotel in Bayern, ihre Kleidung stammte aus teuren Modehäusern. Sie war eine Dame vom Kurfürstendamm.

„Bis morgen!“ rief Helga ihrer Angestellten zu, als sie an einem Abend im Frühling das Geschäft verließ. Dass sie kurz darauf mit schweren Herzproblemen im Krankenhaus lag, kam für alle überraschend.

Greta Garbo darf ruhen. Jetzt übernimmt der Sohn die Bücher. Anne Jelena Schulte

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