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Freies Spiel im Mauerpark.

© imago/Rolf Zöllner

Helikopter-Eltern und Impfgegner: „Der Spielplatz wird zum Gefängnis“

Die frühere Ärztin Annebärbel Jungbluth spricht im Interview über Prenzlauer Berg, Kinder ohne Freiraum und Eltern, die Impfungen ablehnen.

Von Christian Hönicke

Annebärbel Jungbluth, 78, war seit 1963 unter anderem in den Krankenhäusern Friedrichshain und Scharnhorststraße, als Sportärztin am SEZ und für den Ost-Berliner Magistrat im Jugendgesundheitsschutz tätig. 1991 bis 2013 leitete sie eine Kinderarztpraxis in Prenzlauer Berg. Ihre Autobiografie „Ja. Aber ...“ kostet 19,99 €.

Frau Jungbluth, Sie haben seit 1957 in Prenzlauer Berg gelebt und dort bis 2013 jahrzehntelang als Kinderärztin praktiziert. Die Entwicklung hin zu einem vermeintlich besonders kinderfreundlichen Stadtteil haben Sie also hautnah miterlebt.

Prenzlauer Berg ist elternfreundlich, nicht kinderfreundlich. Die Kinder haben keinen Freiraum mehr, können sich kaum noch entfalten. Meine Kinder haben mit den Nachbarskindern damals ohne Aufsicht auf dem Exer gespielt, heute sind die Kinder auf dem Spielplatz gefangen und unter ständiger Kontrolle der Eltern. Sie werden bis zur vierten Klasse in die Schule gebracht, teilweise mit dem Auto.

Die Eltern kümmern sich eben um ihre Kinder, ist das falsch?

Wir nennen es Overprotection, und das ist langfristig sogar schädlicher als leichte Vernachlässigung. Die Kinder lernen so keine Selbstständigkeit, der Praxis-Schock trifft sie unvorbereitet. Dabei sind die Kleinen eigentlich von sich aus neugierig und möchten selbst entdecken, doch die Eltern hindern sie daran. So entsteht auch diese Bewegungsmuffelei. Letztens war ich im Schloss, hinter mir flitzte ein Kind die Treppe hoch, dass es eine Freude war, um zu sehen, was da kommt. Und die Mutter rief hinterher: Nicht so schnell!

Ihr Buch „Ja. Aber…“ ist einerseits Autobiografie, andererseits fundierter Zeitzeugenbericht aus mehr als einem halben Jahrhundert Prenzlauer Berg. Wer genau hinsieht, erkennt darin auch viele kleine ärztliche Ratschläge.

Ich möchte Denkanstöße geben, direkt und zwischen den Zeilen.

Ihr ehemaliges Einzugsgebiet umfasste den Helmholtzplatz. Das ist statistisch erwiesen der Hort der Impfgegner, die Schulmedizin und Pharmaindustrie extrem kritisch gegenüberstehen. Woran liegt das?

Das hat historische Wurzeln. Jahrzehntelang hat man Autoritäten auf einen Sockel gestellt, das schlägt nun um. Aber Extreme sind immer ungut, der Mittelweg ist die beste Lösung. Deshalb sage ich: Bildung, Bildung, Bildung, damit die Leute die Zusammenhänge verstehen.

Die Menschen in Prenzlauer Berg sind doch besser gebildet als je zuvor.

Ich meine damit nicht Philosophen auswendig lernen, sondern naturwissenschaftliche Bildung – Voraussetzung für logisches Denken. Es geht um die Fähigkeit, selbst kritisch denken zu können.

Sind die Leute denn nicht kritisch genug?

Nicht in dem Sinne, wie ich es meine. Sie können oft nicht unterschieden, was plausibel ist und was nicht. Die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, ist verloren gegangen. Viele sind zu bequem geworden und machen sich abhängig von Technik. Ohne Handy können sie einfachste Aufgaben gar nicht mehr bewältigen.

Aber in Sachen Impfung haben sich viele doch im Internet extrem tief eingelesen.

Diese Eltern glauben aber nur, gebildet zu sein. Das ist eine Scheinbildung. Sie wollten klüger sein als ein Arzt und haben Impfungen kategorisch abgelehnt. Ich habe schlimme Dinge erlebt. Rachitis, weil Vitamin D verweigert wurde. Eltern, die eine Fraktur mit Salbe behandeln wollten. Die Masern nicht als tödliche Gefahr gesehen haben, sondern als Kinderkrankheit, die Immunsystem und Persönlichkeit stärkt. Dabei ist unlängst ein ungeimpftes Kind in Berlin an Masern gestorben.

Bewirken solche Fälle ein Umdenken?

Das glaube ich nicht. Da heißt es dann lakonisch: Pech gehabt. Sie spielen einfach Russisch Roulette mit ihren Kindern. Ihre Sicht stilisieren sie als eine Religion hoch, das grenzt an Fanatismus.

Konnten Sie diese Eltern gar nicht erreichen?

Diskutieren konnte ich mit ihnen selten, sie waren so von sich selbst überzeugt und dabei sehr verbohrt. Das ist ja eine Glaubensfrage, da kommt man mit Fakten nicht weiter. Es sind auch viele falsche Fakten im Umlauf. Etwa der Mythos, dass Masernimpfung Autismus hervorrufen würde. Das ist einfach falsch.

Wie entstehen solche Mythen?

Das weiß ich auch nicht. Die Denkweise ist teils schizophren. Diese Eltern nutzen wie selbstverständlich neueste Technik, Smartphones, Tablets. Nur bei der Medizin soll es zugehen wie im Mittelalter. Dabei ist etwa Keuchhusten für Säuglinge kreuzgefährlich. Die Kinder hören einfach auf zu atmen, deswegen muss man sie so früh wie möglich impfen.

Es gab Eltern, die haben sich trotzdem dagegen gewehrt. Dabei werden auch ihre Tröpfchen und Kügelchen von der Pharmaindustrie hergestellt. Ich frage mich: Warum denken sie nicht so weit? Ich kann nicht nachvollziehen, dass allein die Eltern entscheiden, ob geimpft wird. Setzt das nicht eine profunde Sachkenntnis voraus?

Wer soll es sonst entscheiden?

Mir geht es um einen Perspektivwechsel. Darum, alle Maßnahmen nicht nur aus der Sicht der Erwachsenen zu entscheiden, sondern die Sicht der Kinder und ihrer Bedürfnisse in die Waagschale zu werfen. Ich habe Pankows Bezirksbürgermeister Sören Benn gebeten, eine Länderinitiative zu starten, die Rechte der Kinder in die Verfassung aufzunehmen. Wir haben kaum Ressourcen, die Kinder sind unser wichtigstes Gut. Doch zu viele von ihnen sind nicht beteiligt an der Entwicklung unseres Landes, sie sind nicht in der Lage, ihre Rechte selber einzufordern.

Was fordern Sie an ihrer Stelle?

Die vorhandenen Mittel müssten zielgerichteter eingesetzt werden. Das Geld mit der Gießkanne zu verteilen reicht nicht. Das DIW hat in seiner jüngsten Studie belegt, dass die Reform des Elterngeldes 2007 keinerlei Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder hatte.

Haben Sie konkrete Vorschläge?

Neben Kinderbetreuung und Schulen muss vor allem der öffentliche Gesundheitsdienst gestärkt werden. Jedes Kind sollte in der ersten Lebenswoche unangemeldet besucht werden, um Probleme und Sorgen der Eltern möglichst gleich zu beheben. Die Vorsorgeuntersuchungen sollten an Finanzen gekoppelt werden, damit sie wirklich von allen Eltern wahrgenommen werden. Nur so lassen sich Entwicklungsstörungen aufspüren und behandeln. Und es darf kein Kind mehr an Masern sterben, kein Teenager an Hepatitis B erkranken.

Sind Sie für eine Impfpflicht in Kitas und Schulen?

Unbedingt. Wie in den USA sollten Kinder ohne ordentlichen Impfstatus nicht in öffentliche Einrichtungen aufgenommen werden dürfen. Sie gefährden ja auch andere. Es gibt chronisch kranke Kinder, die nicht geimpft werden können, für die ist eine Maserninfektion im Zweifel ein Todesurteil. Schon allein, um diese Kinder zu schützen, brauchen wir eine Durchimpfung.

Wie erreicht man die Unentschiedenen?

Man muss sie auf die sanfte Tour ansprechen, nicht zu krass. Sonst verprellt man die Wankelmütigen und wird von Impfgegnern gleich als Vertreter der Pharmaindustrie gebrandmarkt. Man erreicht etwas, wenn man sie an ihre Verantwortung auch anderen gegenüber erinnert.

Hat sich das Verhalten der Kinder gegenüber Ihnen als Ärztin geändert?

Ich hatte zum Schluss auch Rowdys in der Praxis. Ich habe mir irgendwann angewöhnt, nicht die Kinder, sondern die Eltern anzusprechen, und zwar durchaus resolut. Dieser total antiautoritäre Ansatz ist schlimm. Kinder brauchen Vorbilder. Sie kommen mit Urvertrauen auf die Welt, das verlieren sie, wenn sie sich nicht auf die Eltern verlassen können.

Aber die Eltern schwirren doch rund um die Uhr um sie herum.

Ja, aber sie überwachen eher ihr Wohlergehen, mit bedenklichen Auswüchsen. Ich erinnere mich an einen Extremfall. Eine Mutter sorgte sich, ihr Sohn würde nicht laufen lernen. Ich beruhigte sie, doch beim nächsten Besuch verkündete sie triumphierend: „Das Kind hat eine zentrale Koordinationsstörung.“ Sie hatte einen Orthopäden gefunden, der das Gehirn ihres Sohns gescannt und ihr die ersehnte Diagnose erstellt hatte, die sie ihren Freundinnen präsentieren konnte. So wird der Arzt zum Dienstleister degradiert

Was treibt diese Eltern um?

Sie sind älter als früher, das Kind wird zu einer Art Anschaffung, wie eine Vase, die keinen Kratzer bekommen darf. Es muss die Erwartungen erfüllen. Überall werden ihm Regeln vorgegeben, es hat kaum Möglichkeiten, sich selbst zu finden.

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