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Berlin: Herbert Heinsohn (Geb. 1927)

„Wie gesagt, das Problem ist der Nachwuchs.“

Der Großvater betritt mit seinem Enkel das Zugabteil, holt aus seiner Reisetasche ein Paket mit Apfelkuchen, Tee in einer Thermoskanne, ein Kartenspiel mit zierlichen Zeichnungen der ersten Automobile. „ICE nach Salzburg, zurückbleiben!“, ruft eine Lautsprecherstimme. Der Enkel schaut aus dem Fenster, Fassaden, Dächer, Leuchtreklamen entschwinden, dafür Wiesen, Felder, ferne Pappelreihen. „Wie klein die Autos sind, und dort, zwei Rehe“, ruft der Enkel. Der Großvater gibt ihm ein Stück Apfelkuchen, sagt: „Schlaf jetzt ein wenig“, der Enkel schließt die Augen, in seinem Traum vermengen sich die gedämpften Stimmen der Reisenden mit den Spielzeugstraßen, den Spielzeugautos dort draußen in der weiten Landschaft.

„Wir haben kein Konkurrenzproblem, wir haben ein Nachwuchsproblem“, erklärt Christina Heinsohn. „Der Großvater, der alljährlich mit seinem Enkel eine Zugreise unternimmt, ist eine Ausnahme. 90 Prozent unserer Kundschaft besteht aus Erwachsenen. Die Leute, die Kinder haben, fahren immer weniger mit der Bahn. Heutzutage soll alles schnell gehen. Man steigt früh um neun in Berlin ins Flugzeug, sitzt drei Stunden später schon auf einem Platz in Rom und isst Eis.“

Christina und ihr Bruder Andreas sind Inhaber des Spielwarenladens in der Beusselstraße 47. 1951 hat ihr Vater, Herbert Heinsohn, das Geschäft gegründet. Kinder wird es immer geben, denkt Herbert Heinsohn. Aber die Nachkriegskinder drücken ihre blassen Gesichter traurig gegen die Schaufensterscheibe, betreten zögernd das überwältigende Innere dieses kleinen Paradieses, legen ein Zwanzigpfennigstück auf den Ladentisch, dürfen damit eine ganze lange Stunde einen Tretroller ausleihen. Einmal im Jahr stehen die Eltern der Kinder in dem Geschäft und zählen ihre paar Mark. Am Heiligabend legen sie ein Blechauto für alle Söhne, eine Puppe für alle Töchter unter den Weihnachtsbaum.

Aber die Jungen und Mädchen von damals kommen zurück in die Beusselstraße, Jahrzehnte später, regelmäßig, kaufen jedes Mal ein neues Modellauto, eine Käthe-Kruse-Puppe. „Viele unserer Stammkunden sind Sammler“, erzählt Christina Heinsohn, „und das Sammeln ist eine Folge des Mangels in der Kindheit. Das hier ist ein Familienbetrieb, seit bald 60 Jahren. Ab und an finden Sammlertreffen statt. BVG-Fahrer, Ärzte, Müllmänner, Rechtsanwälte, alles unsere Kunden. Sie sitzen dann zusammen, trinken Kaffee, fachsimpeln. Und schimpfen, wenn wir zu viel saubermachen. Die alte Einrichtung, der Staub, das tröstet sie.“

Ende der siebziger Jahre, als auch Tankstellen und Supermärkte anfangen, Spielzeug zu verkaufen, spezialisiert Herbert Heinsohn sich auf Sammlerstücke, Modellautos, Modelleisenbahnen, Bausätze für Schiffe und Flugzeuge, Steiff-Tiere. Er richtet ein Bestellsystem ein, wird Clubhändler. „Früher hatten wir 1500 Abonnenten, heute sind es vielleicht noch 30“, sagt Christina Heinsohn, „wie gesagt, das Problem ist der Nachwuchs.“

Der Großvater und sein Enkel sind zurückgekehrt von ihrer Reise. Sie fahren in die Beusselstraße, suchen einen Miniaturschlafwagen, fünf Miniaturrehe, eine winzige Bäuerin und drei streichholzgroße Pappeln für ihre Eisenbahnanlage aus. Der Enkel wendet den Schlafwagen behutsam in seinen Händen, schaut hinein durch das kleine Fenster, erkennt ein herunterklappbares Tischchen, eine Leselampe und das Bett, das gemacht ist. Tatjana Wulfert

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