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Berlin: Herr der tausend Leihgaben

"Ick bring wat auf die Pfanne", hieß es früher in Berlin, wenn die Lohntüte lange vor dem Wochenende leer war. Und nach dem Gang auf die Pfanne war man erst mal wieder flüssig bis zur Wochenmitte.

"Ick bring wat auf die Pfanne", hieß es früher in Berlin, wenn die Lohntüte lange vor dem Wochenende leer war. Und nach dem Gang auf die Pfanne war man erst mal wieder flüssig bis zur Wochenmitte. So jedenfalls erzählt es Stephan Goebel, der es wissen muss. Der 38-jährige Weddinger ist Pfandleiher in der vierten Generation. Eine verschnörkelte Schrift über alten Email-Schildern verrät, dass im Leihhaus Göbel an der Müllerstraße seit 1900 die Geschichte des Schnellkredits fortgeschrieben wird: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden hier zunächst Herrenschuhe oder warme Unterwäsche für ein paar Mark versetzt, erzählt der Spross des Hauses. Anfang der 60er gingen die ersten Pelze über den Tresen - und Schmuck. Gold bringen bis heute vor allem die älteren Kunden. Die jüngeren machen Unterhaltungselektronik, Computer, Videokameras wieder zu Geld, "inzwischen kommen die ersten DVD-Spieler".

Es werden immer mehr, die auf einmal so knapp bei Kasse sind, dass ihnen nur der Gang ins Pfandhaus als Ausweg erscheint. Traten in den achtziger Jahren in den Spitzenzeiten durchschnittlich 60 Kunden täglich vor einen der zwei Panzerglasschalter, so sind es laut Göbel heute über 200. Die Tage vor Weihnachten gehören zu den Spitzenzeiten, da herrscht Hochbetrieb im Leihhaus. Teure Geschenke und so manche Jahresabrechnung reisst dicke Löcher ins Budget, so wird Goebel immer wieder gebeichtet. Außerdem sind die Rücklagen in vielen Haushalten geringer als früher.

Jeder zweite Haushalt gilt inzwischen bundesweit als verschuldet. In der Hauptstadt dürften rund 180 000 Haushalte hoch verschuldet sein, so hat die Berliner Schuldner- und Insolvenzberatungsstelle kürzlich geschätzt. Noch vor drei Jahren ging der Senat von lediglich 100 000 überschuldeten Haushalten aus. Und Wedding ist nicht eben der reichste Bezirk in der Bundeshauptstadt.

Göbel, der den Standort seines Leihhauses mit dem Hinweis, "direkt gegenüber vom Arbeitsamt", anzugeben pflegt, will seinen Beruf nicht als Geschäft mit der Armut verstanden wissen. In seiner Kundschaft finde sich vom Arbeiter bis zum Unternehmer jedes Berufsbild. Natürlich käme es auch immer wieder zu kuriosen Auftritten in dem steingutgefliesten Raum. Da wäre zum Beispiel der Musiker, der immer dann sein Instrument versetzt, wenn er keine Auftritte hat. Oder der Fotograf, der einen Teil seiner Ausrüstung ins Leihhaus bringt - um so die nächste Reise zu finanzieren.

Die meisten Kreditnehmer kommen - vorübergehend - immer wieder auf den grünen Zweig. Da 90 Prozent der Versatzstücke wieder abgeholt werden, macht Göbel sein Hauptgeschäft aus einem Prozent Zinsen im Monat und den Gebühren, die bis zu einer Kredithöhe von 500 Mark gesetzlich zwischen 2 und 2,5 Prozent festgeschrieben sind.

Die meisten Kredite bewegen sich in einem Rahmen zwischen 15 und 1000 Mark. Die versetzten Wertgegenstände liegen im Durchschnitt etwa drei Monate in den Regalen und Panzerschränken des elektronisch überwachten Archivs. Es mutet zunächst wie eine Kuriositätenkammer an: uralte Reisekoffer neben Computern und Stereoanlagen, geheimnisvolle Schatullen und kleine Statuetten neben Bohrmaschinen und Panzerschränken. Doch der erste Eindruck täuscht. Den Wert des Geschäftes mache zu über 80 Prozent der Schmuck aus, meint der Herr der tausend Leihgaben. Stephan Goebels Vater kannte sich noch mit Edelsteinen aus, war gelernter Uhrmacher. Goebel junior ist zwar Einzelhandelskaufmann, doch das Handwerk des Vaters schimmert bei ihm durch: "Wenn ich was versetzen müsste, dann wären es wohl mein Uhren oder die Brillanten meiner Frau". Doch so weit dürfte es nicht kommen: Pfandleiher können ausgesprochen vorsichtig mit Geld umgehen.

Ole Töns

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