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Berlin: Hildegard Rauschenbach (Geb. 1926)

"Wir haben den Krieg verloren, wir mussten den Tribut zahlen."

Im Traum hat sie den Ort, an dem sie aufwuchs, wieder und wieder besucht. Dickschen bei Lasdehnen, Post Ußballen, Kreis Pillkallen. Den mächtigen Weidenbaum an der Toreinfahrt. Den Teich an der Scheune mit den Fröschen, die sie Poggen nannten. Den mächtigen ostpreußischen Himmel, so hoch und blau.

Zehn Hektar Land besaßen sie, fruchtbaren Boden, der die Familie nährte. Hilde pflückte vom Fahrrad aus die reifen Kirschen.

Im Traum hörte sie die Menschen sprechen, den Heringsbändiger, der mit kleinen Fässern über Land fuhr, den Schmeißweg, der mit Gummibändern und Zahnbürsten handelte, den Scherenschleifer und den Hutzelmann, so nannten sie den fahrenden Bäcker.

Die größeren Brüder ärgerten sie gerne, nannten sie Schäschke, das ist Litauisch für Iltis, wegen ihrer schwarzen Haare, und Hilde wurde fuchsteufelswild und trommelte mit ihren Fäustchen auf sie ein.

Einmal kam ein Mann mir Grammophon vorbei und spielte „O Donna Klara“. Hilde hüpfte in der Stube umher und konnte ihr Glück kaum fassen. Fortan versuchte sie allem, was sie auf dem Hof fand, Töne zu entlocken und dazu Lieder zu singen. Die Tante, die nur Tante hieß, weil es nur eine gab im Haus, fuhr eines Tages nach Königsberg und kam mit einem Akkordeon für Hilde zurück. Einfach so.

Mit 15 durfte Hilde selbst nach Königsberg, zur anderen Tante, die Frida hieß. Frida schickte sie zum Klavierlernen auf eine Musikschule, nebenher lernte sie brav Steno und Schreibmaschine. Hilde wollte bald selbst Musiklehrerin werden, es sollte auch nicht viel Geld kosten, deshalb stimmte der Vater zu. Doch nach zwei Jahren kam der Krieg. Beide Brüder kämpften an der Front, Hilde musste zu Hause helfen. Im Frühjahr 1944 brachte sie zusammen mit ihrem Vater die Saat in die schwarze Erde, im Oktober begann die Flucht. Weit nach Westen durften sie nicht, weil der Endsieg ja noch kommen sollte. Stattdessen kamen die russischen Soldaten. Und sie nahmen sich Hilde, einer nach dem anderen. „Mamachen, die nächste Nacht erlebe ich nicht mehr“, sagte sie der Mutter. Erschießen wollte sie sich, mit dem Revolver, den der Bruder ihr gegeben hatte. Als sie den Revolver in der Hand hielt, wusste sie, dass alle sterben würden, wenn sie abdrückte.

Jeden Tag kamen andere Soldaten. Hilde versteckte sich, stellte sich krank, zog Lumpen an, beschmierte das Gesicht mit Schmutz, spielte die Verrückte. Es half nichts.

Nach einer Woche stellte ein russischer Leutnant sie vor die Wahl: Bei ihm bleiben oder nach Sibirien. Hilde wählte das kleinere Übel. Sibirien, dreieinhalb Jahre. Sie fällte Bäume, entlud Kohlewaggons und kämpfte gegen Hunger, Kälte, Wanzen und Läuse.

„Sie war mit ihrem Leben immer zufrieden“, sagt ihr Mann Heinz, den sie nach der Rückkehr aus Sibirien kennengelernt hatte. Trotz der bösen Träume, die sie plagten. Heinz konnte sie alles erzählen, auch von den Vergewaltigungen und den vielen Toten.

Hilde bekam ein Kind, kümmerte sich um alles Häusliche, und begann, als das Kind größer wurde, in Seniorenheimen aufzutreten. Sie spielte an der Orgel und sang Lieder in ostpreußischer Mundart, auch Lieder, die sie selbst geschrieben hatte. Es waren viele Auftritte, und ihre Träume wurden lichter, handelten von Dickschen bei Lasdehnen, dem Fluss Szeszuppe und den Wäldern drumherum.

Sie fing an, ihre Geschichte aufzuschreiben, erst die dunklen Kapitel, später die hellen.

1987 fährt sie zum ersten Mal nach Ostpreußen. Im Bus ist sie das heulende Elend. Drei Jahre danach die zweite Reise, diesmal in den russischen Teil, ihre Heimat. Sie steht dort, wo mal der Hof war, mitten auf einem großen Getreideschlag. Nur ein Saum aus Buchen, der einst den Gemüsegarten umfasste, verbindet die Gegenwart mit ihren Erinnerungen.

Ein Jahr später reist Hilde nach Sibirien, eingeladen vom Direktor der Fabrik, für die sie geschuftet hatte. Ein Chauffeur holt sie vom Flughafen ab. Ihre Erzählung über die Verschleppung nach Sibirien erscheint in der Werkszeitung, in Russisch. Sie löst großes Aufsehen und Betroffenheit aus. Viele wissen nichts von dem Lager und dass die Helden der Roten Armee im Siegestaumel deutsche Frauen vergewaltigten.

Ein Gedenkstein für die im Lager gestorbenen deutschen Frauen wird aufgestellt, eine Ausstellung eröffnet. Und Hilde fährt wieder hin, um sich bei den Menschen zu bedanken, die ihnen damals im Lager Kartoffeln schenkten. Sie hegt keinen Groll, auch nicht gegen die Soldaten, die sich an ihr vergingen. „Wir haben den Krieg verloren, wir mussten den Tribut zahlen“, sagt Hilde. Nun ist sie Ehrengast, empfängt Geschenke und Lobreden, gibt Interviews, hält Vorträge.

Zum Volkstrauertag lauscht man ihren Worten im Bundestag. Das Bundesverdienstkreuz nimmt sie entgegen. Einige ihrer ostpreußischen Gedichte werden ins Russische übersetzt. So können die neuen Bewohner Ostpreußens den alten lauschen, ihren Gebietsahnen. Auf sechs Bände ist das Erinnerungs-Werk von Hilde angewachsen.

Erst verweigern die Nieren ihre Arbeit, zuletzt sind es 26 Krankheiten, die der zierlichen Person das Lebenslicht auslöschen. Mädchen wie Hilde wurden in Ostpreußen Marjellchen gerufen. Eine schönes Wort, das auszusterben droht.

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