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"Flüchtlinge sind willkommen", hat eine Unterstützerin vor das Hostel in der Gürtelstraße geschrieben.

© dpa

Hilfe für Flüchtlinge: Wir machen es uns mal wieder zu leicht

Deutsche leben heute in Freiheit, Frieden und Demokratie. Ist es nicht deshalb unsere Pflicht, jetzt anderen zu helfen? Unsere Autorin Hatice Akyün setzt auf die Übernahme von Verantwortung.

Neulich saß ich in meinem Kiez bei meinem Stammitaliener. Das Wetter war herrlich und jeder versuchte, einen Tisch draußen zu bekommen. Es saßen ganz unterschiedliche Menschen beisammen: junge Paare, die kaum zum Essen kamen, weil sie sich verliebt in die Augen schauten, ältere Paare, die zum Essen kamen, weil sie sich nichts mehr zu sagen hatten.

Mein Tag war anstrengend, ich sah und las viele Nachrichten. Das Internet ist Fluch und Segen zugleich. Man erfährt Dinge, die man früher nie erfahren hätte, man erfährt aber auch Dinge, die man lieber nicht wissen sollte, damit unser Glaube an das Gute nicht verloren geht. Wenn ich die Menschen sehe, die in diesen Tagen weltweit auf der Flucht sind, raubt es mir den Atem.

Die Familie einer Schulfreundin meiner Tochter stammt aus Syrien. Meine Tochter wollte wissen, warum ihre Freundin in den Sommerferien ihre Großeltern nicht besuchen durfte, so wie sie es tat in der Türkei. So kam ich in die Verlegenheit, zum ersten Mal meiner Tochter erklären zu müssen, was Krieg bedeutet. Ich spürte, dass wir zwar weit weg sind von den Kriegsorten, aber der Krieg uns durch das Schicksal der Schulkameradin trotzdem ganz nah kam. Später legte sie mir ihr Erspartes auf den Tisch und sagte: „Mami, das ist für die Kinder, die kein Zuhause mehr haben.“ Kinder bringen einem die verloren gegangene Empathie in den Alltag zurück.

Bedrohung des eigenen Wohlstandes

An diesem Abend machte ich mir Gedanken über uns Deutsche. Wir leben heute in Freiheit, Frieden und Demokratie, weil die Hilfe von außen kam. Ist es nicht deshalb unsere Pflicht, jetzt anderen zu helfen? Aber wir machen es uns mal wieder zu leicht, obwohl wir es besser wissen sollten. Wir spenden wie die Weltmeister, aber wenn wir den Flüchtlingen direkt und ohne Umwege helfen könnten, zum Beispiel in Kreuzberg, werden sie plötzlich zur Bedrohung des eigenen Wohlstandes. Wir liefern Waffen an die Kurden, um die Jesiden zu beschützen und vor Ort die Terroristen zu töten, damit wir uns nicht selbst damit auseinandersetzen müssen. Wir sind solidarisch mit der Ukraine, damit der Russe uns nicht auf die Pelle rückt.

Wir haben angeblich aus unserer Geschichte gelernt, und es ist uns gut bekommen. Und genau deshalb sollten wir uns nicht davor scheuen, die offenen Fragen mit mehr Tiefe zu beantworten. Mehr Verantwortung zu übernehmen heißt nicht, anderen widerspruchslos hinterherzulaufen, sondern auch zu verantworten, von welchen Missständen wir selbst ganz gut profitieren. Das gilt bei Konflikten weit weg und vor der eigenen Haustüre. Oder wie mein Vater sagen würde: „Altin kapilinin agac kapiliya isi düser.“ Der mit der goldenen Tür braucht auch mal die Hilfe von einem mit der hölzernen Tür.

Hatice Akyün ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause. An dieser Stelle schreibt sie immer montags über ihre Heimat.

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