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Berlin: Hinter Lichtenberger Mauern

Wie man beim Theaterprojekt „X Wohnungen“ wildfremden Leuten näher kam und unbekannte Ecken der Stadt entdeckte

Kurz vor Schluss haben wir doch noch unser Horror-Erlebnis. Wir stehen in einer staubigen Altbauwohnung in Lichtenberg. Ein halbnackter, kräftig tätowierter Bauarbeiter hat gerade den Türrahmen zugemauert, durch den wir den Raum wieder verlassen wollten. Er nimmt einen Schluck aus der Bierflasche, kaut schmatzend auf einem Hähnchenschenkel und starrt uns minutenlang so feindselig an, als wollte er sich auf uns stürzen.

Davor war eigentlich alles gut gegangen. Überraschend gut, für unseren ersten abendfüllenden Besuch in jenem Bezirk, der uns gelernten Westlern bislang ähnlich vertraut war wie Zschopau im Erzgebirge. Um das zu ändern, haben wir am Wochenende beim Theaterprojekt „X Wohnungen“ mitgemacht, das das HAU, das „Hebbel am Ufer“ von Donnerstag bis Sonntag veranstaltet hat.

Aufgemalte Pfeile wie bei einer Schnitzeljagd führen die Teilnehmer in Zweiergruppen vom S-Bahnhof Nöldnerplatz an dreistöckigen Mietshäusern vorbei, durch Rosengärten und unter Bahnbrücken hindurch. „Hallo, ich bin die Vera“, werden wir kurz vor 21 Uhr an der ersten Station begrüßt. Eine freundliche, sonnengebräunte Rentnerin lädt uns in ihre quietschbunte Wohnung, in der alles von Ikea zu stammen scheint. Am Herd stehen drei vietnamesische Studenten. Die vier setzen sich, essen Klöße und Würstchen. Plötzlich kippt die Stimmung. „Ich will euer Blut sehen“, keift die alte Dame die Vietnamesen an. „Ich will eure Köpfe auf Stöcke aufspießen.“ Upps. Betreten verlassen wir die Inszenierung.

Nächste Station ist ein hübsch begrüntes Plattenbauviertel, in dem alle Straßen gleich heißen. Links in die Doldenseestraße, rechts in die Doldenseestraße, der Imbiss heißt Doldensee-Imbiss, der Supermarkt Doldensee-Center. Wir betreten einen grün verkleideten Plattenbau, tauschen im zweiten Stock die Schuhe gegen Filzpantoffeln und werden in ein Wohnzimmer geführt, wie wir sie an diesem Abend mehrmals sehen: massive Schrankwand, Aquarium, Couchgarnitur mit Schutzdecke.

Die Frau des Hauses erzählt von der Zeit, als das hier der erste Block der Siedlung war, und wie sie und ihr Mann sich einst in einem Café in der Stalinallee kennen lernten. Dabei schauen sich die beiden ganz verliebt an. Wir sind gerührt. Fünf weitere Doldenseestraßen und kleine Parks weiter sitzen wir bei einer fidelen Rentnerin im Wohnzimmer. Um sie herum liegen Alben voller Autogrammkarten. Eartha Kitt ist dabei, Evelyn Hamann, Chris de Burgh. Ein junger Mann befragt sie zu ihrem Leben, ein Lügendetektor registriert jede Antwort. Als er sie fragt, ob sie nach dem Tod ihres Mannes andere Männer begehrte, sagt sie Nein, der Lügendetektor leuchtet auf.

Am Tierpark wird’s zum ersten Mal unheimlich. Ein älteres Ehepaar geleitet uns schweigend in sein Wohnzimmer. Er stellt sich vor uns hin, singt: „Am Brunnen vor dem Tore“. Die beiden führen uns ins Schlafzimmer. Leuchtend weiße Möbel, weiße Satinbettwäsche, weißer Teppich. In der Ecke steht ein Mädchen in Funkenmariechenkostüm und Vollbart und jault den Whitney-Houston-Song „I can’t live“. Eine Straße weiter sind wir bei einer jungen Mutter zu Besuch, über die eine Künstlerin einen Videoclip gedreht hat, der im Wohnzimmer läuft. Wir unterhalten uns über ihre Arbeit als Hundesalonbesitzerin und sind peinlich berührt, als sie den Sohn ins Bett schickt, weil der immer dazwischenredet.

In der Wönnichstraße verschwimmen die Grenzen zwischen Theater und Realität völlig. Zwei freundliche Vietnamesen geleiten uns in eine überhitzte, feuchte Altbauwohnung. Plötzlich fangen sie an zu streiten, dann lächeln sie wieder und führen uns in einen Massageraum, wo sie uns mit unserer Irritation alleine lassen. Was machen wir hier eigentlich? Der Rausschmeißer des Abends ist der tätowierte Muskelprotz. Er entlässt uns durch ein Fenster zum Hof. Für heute haben wir genug gesehen von Lichtenberg, wollen aber bald wiederkommen.

Das Projekt „X Wohnungen“ endet heute. Es ist ausverkauft.

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