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Berlin: Höllische Tage

U-Bahnfahrer brauchen lange, um den Schock zu verarbeiten

Es kann jedem passieren, jeden Tag – und trotz aller vorbereitenden Schulungen ist kein U-Bahnfahrer wirklich darauf vorbereitet: auf den tödlichen Sprung eines Lebensmüden vor seinen Zug. Diese Sekunden wird keiner von ihnen jemals vergessen können. Vielleicht sieht der Fahrer noch aus den Augenwinkeln, wie der Selbstmörder Anlauf nimmt, bevor plötzlich ein Schatten vor dem Fahrerfenster auftaucht. Oder er kann deutlich dessen Gesicht erkennen, denn viele Selbstmörder suchen den direkten Augenkontakt mit dem Zugführer. Einer erinnert sich, wie plötzlich ein Körper aus einer dunkle Nische im Tunnel auf die Gleise springt und niederkniet, bevor ihn die tonnenschwere Bahn niederwalzt. Wie in Zeitlupe dehnt sich dieser Augenblick. Und im Kopf des Fahrers hämmert es nur: Hoffentlich tut der es nicht.

Nur ein Augenblick, doch er verändert das Leben des Fahrers grundlegend: der Schreck, der vergebliche Bremsversuch und dann das Geräusch beim Überrollen des Körpers. Die Art und Weise, wie die Betroffene damit fertig zu werden versuchen, ist unterschiedlich. Manche laufen zunächst stumm und fassungslos über den Bahnsteig. Andere schreien ihre Wut heraus: „Ich hätte den noch gewürgt, wenn er überlebt hätte.“ Viele quälen Schuldgefühle. „Hätte ich schneller gebremst, würde der Mensch noch leben.“ Keiner steige nach so einem Erlebnis unbeteiligt aus dem Fahrerhaus, als ob nichts gewesen wäre, sagt Claas-Hinrich Lammers, Psychiater an der Psychiatrischen Klinik der Freien Universität. Lammers hat schon mehrere U-Bahnfahrer psychologisch betreut, die mit einem solchen Trauma konfrontiert wurden.

Die meisten von ihnen erleben einige Tage lang die Hölle. Das Schlimmste sind die so genannten Flashbacks, Erinnerungsfetzen an den Augenblick, als der Lebensmüde sprang. „Sie hören immer und immer wieder den Knall des Aufschlags oder sehen den Sprung in allen Details“, sagt Lammers. Und jedesmal ist es für die Betroffenen so real, als ob sie es noch einmal erlebten. Die Angst und der Schock schießen in fast unveränderter Intensität wieder hoch. Die Zugführer kämpfen mit Depressionen, Angst und Verzweiflung, sie schlafen schlecht, sind unruhig und reizbar. Und auch wenn die BVG ihren Mitarbeitern sofort psychologische Hilfe anbietet, nimmt nur jeder sechste diese Chance war.

Das Wichtigste ist, den Betroffenen Sicherheit zu vermitteln, sagt der Psychiater. „Ich betone immer wieder, dass diese Symptome ganz normal sind. Und dass es wieder weggeht.“ Erst nach ein oder zwei Wochen mildern sich diese Erscheinungen ab. Vorbei ist es aber nicht. Wenn die Fahrer wieder ihren Dienst antreten, dann kostet es sie eine Riesenüberwindung, wieder in den Zug einzusteigen. Viele von ihnen zittern, haben Schweißausbrüche – doch sie schaffen es. Lammers plädiert für eine Brachialmethode. „Am besten, man setzt die Fahrer nach wenigen Tagen wieder ein, damit sie gar nicht erst eine Vermeidungsstrategie aufbauen können." Doch zwingen dürfe man dazu niemanden – der Schaden wäre zu groß.

Manche aber sind für Monate, Jahre oder sogar ein ganzes Leben lang gezeichnet. Bei ihnen – Lammers schätzt deren Zahl auf 30 bis 40 Prozent – bleiben so massive Störungen zurück, dass es mit ein paar Gesprächen nicht getan ist. Dann helfe nur eine richtige Psychotherapie.

Sicher, kein Lebensmüder denkt darüber nach, was er dem Zugführer antut. In Skandinavien gilt es als schwere Körperverletzung, wenn man vor einen Zug springt – und zwar gegenüber dem Fahrer.

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