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Leben und Tod. Am Bahnhof Friedrichstraße steht eine der Plastiken des Zeitzeugen und Überlebenden Frank Meisler zu den Kindertransporten „Züge in das Leben – Züge in den Tod; trains to death – trains to life 1938–1939“.

© Imago/Schöning

Holocaust-Gedenken in Berlin: Die Reise ihres Lebens

Zwei Passagiere, eine Kreuzfahrt. So begann eine deutsch-jüdische Freundschaft – und die Geschichte eines Stolpersteins, der am Freitag in Schöneberg verlegt wird.

Offenbar sollte es so sein. Als der Wilmersdorfer Musikverleger Horst Brauner im September 2014 mit seiner Frau eine Kreuzfahrt auf dem Schwarzen Meer unternahm, begrüßte er die Mitreisenden auf dem Weg zum Frühstücksraum stets mit einem „Guten Morgen!“. An Bord waren fast nur US-Amerikaner, die gaben dann meist ein „good morning!“ zurück. Ein Mann aber erwiderte den Gruß in deutscher Sprache – und heute ist das für Brauner „mehr als ein Zufall“. Denn er lernte George Shefi kennen – und dessen Lebensgeschichte als Kind aus einer deutsch-jüdischen Berliner Familie.

Dieser soll am Freitag, 30. Juni, auf besondere Weise gedacht werden. Um 10.30 Uhr werden vor dem früheren Wohnhaus an der Schöneberger Hauptstraße 5 zwei Stolpersteine für Shefis Mutter Marie und seine Tante Margit verlegt, die beide 1943 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet worden waren. Auch der 85-jährige George Shefi will am Festakt nahe dem Kleistpark teilnehmen. Er lebt in Jerusalem, stammt aber aus Schöneberg: Geboren wurde er als Georg Spiegelglas in einem Haus an der Hauptstraße.

Horst Brauner (li.), seine Frau Anke Gerlach (r.) sowie George Shefi (2.v.r.), links von ihm seine Frau Yael und seine Schwester Irene Sills (mit Fotokamera).
Horst Brauner (li.), seine Frau Anke Gerlach (r.) sowie George Shefi (2.v.r.), links von ihm seine Frau Yael und seine Schwester Irene Sills (mit Fotokamera).

© privat

Die „Kindertransporte“ retteten den jüdischen Jungen

Georg wuchs in einer gut situierten Familie auf und besuchte die Gemeindeschule an der Berchtesgadener Straße 10/11 (heute: Löcknitz-Grundschule). Mit dem Terror des NS-Regimes wurde der Junge erstmals in der Pogromnacht im November 1938 konfrontiert, als Nazis im Bayerischen Viertel die Synagoge in der Münchener Straße neben der Schule schändeten und beschädigten.

Was dann folgte, hat der Holocaust-Überlebende Shefi in seinen Memoiren „The Way of Fate“ aufgeschrieben und auch schon einige Male in Deutschland erzählt – insbesondere vor Schülern, aber auch in Kirchen, Ministerien, Landtagen und Vereinen. Ende 1938 wurden jüdische Kinder aus den staatlichen Schulen vertrieben; in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 erschütterte die Pogromnacht das jüdische Leben. Georgs Familie gab ihren Jungen in die „Kindertransporte“ – eine Rettungsaktion für etwa 10.000 jüdische Kinder und Jugendliche im Alter bis zu 17 Jahren, die damals unter anderem von der britischen Regierung, jüdischen Gemeinden, der Anglikanischen Kirche und der Glaubensgemeinschaft der Quäker gestartet und auch durch Spenden finanziert worden war.

Mit dem ersten Kindertransport aus Berlin, so ist es in Archiven nachzulesen, kamen 240 jüdische Waisenkinder am 2. Dezember 1938 in Parkeston Quay, Harwich, an. Mit dem Dampfschiff „Prague“ kamen mit dem zweiten Transport am 10. Dezember 502 Mädchen und Jungen aus Wien nach Harwich, darunter 400 jüdische Kinder. Ein weiteres Rettungsschiff war der US-Dampfer „Manhattan“, der in Southampton anlegte. Auch aus Polen und der Tschechoslowakei wurden in Zügen und Schiffen Mädchen und Jungen geholt. Für die vor der Ermordung durch die Nationalsozialisten geretteten Kinder und Jugendlichen wurden in Großbritannien Pflegeeltern und Heime gesucht. Die meisten sahen die Eltern nie wieder. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges brachen die Kindertransporte ab.

Durch die „Kindertransporte“ retteten andere Länder jüdische Kinder aus Nazi-Deutschland. Auf diesem Foto gibt es Snacks in Southampton.
Durch die „Kindertransporte“ retteten andere Länder jüdische Kinder aus Nazi-Deutschland. Auf diesem Foto gibt es Snacks in Southampton.

© Ullstein Bild

Aus dem Familiennamen „Spiegelglas“ wurde „Shefi“

So kam auch Georg nach England, wohnte bei einem Pfarrer und einer strenggläubigen jüdischen Familie und hieß fortan „George“. 1940 musste er bei einem Aufenthalt in London die Bombardierung der Stadt durch die deutsche Luftwaffe miterleben.

Ein Jahr später, noch im Alter von neun Jahren, verließ Shefi sein Gastland und schiffte sich auf einem Truppentransporter mit 6000 kanadischen Soldaten Richtung Kanada ein. Dort begab er sich zu einem Onkel in den Vereinigten Staaten. Im Alter von 17 Jahren verließ Shefi mit seinem Onkel nach dem Abitur die USA und emigrierte nach Israel, wo beide gemeinsam in einem Kibbuz lebten. Seinen Nachnamen Spiegelglas änderte er in das hebräische Wort Shefi. Durch Zufall stieß er im Alter von 35 Jahren auf die Spur seines Vaters, der schon 1934 nach Palästina ausgewandert war und später in Australien lebte. 1965 schlossen sich beide wieder in die Arme.

Die Mutter und die Tante wurden in Auschwitz ermordet

Nicht retten konnten sich seine Mutter Marie Spiegelglas, geboren 1908 als Marie Benedik, und seine elf Jahre ältere Tante Margit Benedik. 1942 mussten sie umziehen und Zwangsarbeit leisten bei Siemens & Halske in Siemensstadt und beim Unternehmen „Finker & Co.“ an der Charlottenburger Hardenbergstraße. Sein Großvater starb unter der Belastung bereits nach kurzer Zeit an Entkräftung. Am 29. Januar 1943 wurden die beiden Frauen nach Auschwitz deportiert und wohl noch am selben Tag umgebracht.

Nun besucht der Holocaust-Überlebende seine frühere Schule

Zur Stolpersteinverlegung in der Hauptstraße werden nun Mitglieder der Familie aus aller Welt erwartet. Für das Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg nimmt unter anderem Ursula Renner vom bezirklichen Arbeitskreis Stolpersteine teil. Bereits am heutigen 29. Juni will Shefi nach fast 80 Jahren wieder seine einstige Schule besuchen und mit Sechstklässlern sprechen. Was für ein Erlebnis. Am folgenden Tag wollen die Rektorin der Löcknitz-Grundschule, Sabine Staron, sowie Lehrer und Eltern an der Gedenkveranstaltung teilnehmen.

Horst Brauner betreibt den Musikverlag Jubal in seiner Wilmersdorfer Wohnung und musiziert dort auch selbst.
Horst Brauner betreibt den Musikverlag Jubal in seiner Wilmersdorfer Wohnung und musiziert dort auch selbst.

© Cay Dobberke

Musikverleger Brauner ist schon lange sozial engagiert

Musikverleger Horst Brauner, 80, ist selbst nicht jüdischen Glaubens, hatte aber schon vor der Bekanntschaft mit Shefi enge Kontakte nach Israel. 1993 reiste er als Gründer und Leiter des Männerchors der Schöneberger Baptistengemeinde dorthin. Dabei entstand die Idee, den Chor nach dem im Alten Testament erwähnten Musiker „Jubal“ zu benennen. Zwei Jahre später gründete Brauner seinen „Jubal Musikverlag Berlin“ mit einem Schwerpunkt auf geistlicher Musik und Raritäten, den er bis heute in seiner Wohnung an der Wilmersdorfer Hildegardstraße betreibt.

Für sein soziales Engagement bekam er vor fünf Jahren vom Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf die Bürgermedaille des Bezirks; er organisierte auch viele Benefizkonzerte, die unter anderem in der Auenkirche oder im alten Flughafen Tempelhof stattfanden – und Kinderprojekten zugutekamen.

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