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Berlin: Horst Schultze (Geb. 1918)

Suhr, Brandt, Weizsäcker: Die Regierenden kamen und gingen. Fliegen-Schultze blieb

Block B, Reihe 3, Platz 22: sein Platz, jahrzehntelang. Die Mittelplätze des Blocks B in der Berliner Philharmonie kennen keine erste und keine zweite Reihe. Wer dort sitzt, sitzt ganz vorne, auch wenn er nur die dritte Reihe gebucht hat.

Nichts könnte symbolkräftiger sein für Horst Schultze. Denn niemals in seinen Berufsleben hätte er es sich angemaßt, sich in die erste Reihe zu setzen. Und trotzdem saß er immer ganz vorne. Schließlich war er der Inbegriff der grauen Eminenz. Horst Schultze war ein Unersetzlicher. Er war Senatsdirigent.

In den fünfziger Jahren studierte er an der Deutschen Hochschule für Politik in West-Berlin bei Otto Suhr, dessen Assistent er alsbald wurde. Als jener zum Regierenden Bürgermeister gewählt wurde, nahm er seinen Schüler mit in die Senatskanzlei, ins Machtzentrum der Teilstadt, die noch keine Mauerstadt war. Selbstverständlich trug ein Verwaltungsbeamter damals Anzug und Krawatte. Alle taten das – außer Horst Schultze. Der trug eine Fliege, und er trug sie immer. Deshalb hieß er Fliegen-Schultze. Und wenn man heute von ihm spricht, dann weiß kaum einer mehr seinen Vornamen. Als Fliegen-Schultze ist er Legende.

Nach Otto Suhr kam Willy Brandt. Fliegen-Schultze blieb. Nach Brandt kam Heinrich Albertz, Fliegen-Schultze stieg auf. Es kam Klaus Schütz, es kamen Dietrich Stobbe und Hans-Jochen Vogel. Fehlt noch einer? Natürlich: Richard von Weizsäcker. Vielleicht ist er für Horst Schultze der Wichtigste aller sieben Regierenden gewesen. Der SPD-Mann wurde bald enger Berater des CDU-Bürgermeisters, und nichts kennzeichnet seine Sonderstellung besser als eine Episode gleich zu Beginn, im Juni 1981. Der Senat trat zu seiner ersten Sitzung zusammen, Schultze reichte seinem neuen Chef die Unterlagen zum Sitzungsablauf und flüsterte ihm die notwendigen Erklärungen zu. Weizsäcker begann vorzutragen, was ihm zugeflüstert worden war, und unterbrach sich plötzlich: „Ach, Herr Schultze, tragen Sie uns das doch einfach vor.“ Und so erläuterte Schultze die Tagesordnungspunkte und las die vorbereiteten Beschlüsse vor. Er war in der ersten Reihe, obwohl er in der dritten saß.

Die Regierenden kamen, die Regierenden gingen, Horst Schultze war da. Am Ende leitete er drei Abteilungen im Rathaus Schöneberg. Personalabteilung, politische Abteilung und die Abteilung für Koordination. Er bereitete die Senatssitzungen vor und traf sich jeden Dienstag mit den Verbindungsoffizieren der drei Schutzmächte. Gerade da waren an seine diplomatischen Fertigkeiten höchste Ansprüche gestellt. Kein Senatsbeschluss, kein Gesetz konnte in Berlin ohne Zustimmung der Alliierten wirksam werden. Fliegen-Schultze war der Garant, dass das reibungslos funktionierte. Das gewährleistete nicht nur seine Kompetenz, sondern ebenso sein Humor und seine Umgangsformen. Denn man darf sich Horst Schultze keineswegs als die Ausgeburt des preußischen Beamten vorstellen. Zwar war er korrekt von den Haar- bis zu den Fußspitzen; diskret bis zum Alleräußersten; und von einer Loyalität, die Grenzen nicht kannte. „Man ist mit Haut und Haar Diener“, sagte er oft über sich. Aber da war zugleich der Mann mit der entwaffnenden Ironie, der Mann, der auf Parteitagen den sozialdemokratischen Freunden so launig wie regelmäßig die Leviten las. Gewiss hätte mancher viel dafür gegeben, zu erfahren, was hinter seiner sehr hohen Stirn vorging, welche Gedanken da blitzten, wenn wieder einmal ein Neuling unter seinen alterfahrenen Augen ins Bürgermeisteramt trat. Aber es erfuhr niemand. Natürlich nicht.

1983, mit 65 Jahren, wurde Horst Schultze pensioniert, seine Frau hat das nicht mehr miterlebt. Er blieb in seiner Wohnung in Westend, heiratete noch einmal und ging mit seiner zweiten Frau auf viele Reisen. Jeden Morgen schwang er sich aufs Fahrrad, um beim Bäcker am Theodor-Heuss-Platz Brötchen zu holen. Erst nach seinem 95. Geburtstag fand er das Radfahren ein wenig zu unbequem. Ging er eben zu Fuß zum Bäcker und fuhr zurück mit dem Taxi.

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