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Berlin: Horst Wiessner (Geb. 1922)

Auch er wollte weg aus Kreuzberg, doch er blieb.

Hier ist es. Hier oben, 33 Meter hoch, das Paradies. 100 Quadratmeter groß. Rosen, Yuccapalmen und Zinnien, ein Swimmingpool. Horst Wiessner sitzt auf seiner Hollywoodschaukel in der Sonne, sieht den Schwalben und Finken zu, die sich über die Dächer schwingen. Über ihm nur der Himmel.

Am Fuß des elfstöckigen Hauses: die Hölle, für manche jedenfalls. Das Kottbusser Tor, hupende Autos, Dealer, Junkies, Säufer, Verrückte.

Seit dem Krieg lebt Horst Wiessner in der Gegend. Zuerst in der Oranienstraße. Nach dem kalten Winter 1946 läuft er mit dem Handwagen bis nach Charlottenburg, um frisch bedrucktes Weihnachtspapier zu verkaufen. Die beiden kleinen Töchter der Nachbarin als Tariergewicht vorn auf dem Wagen. Die Druckerei des Vaters war zerstört, der Innenhof des Hauses voller Schutt. Horst Wiessner hat eine neue Druckerei aufgebaut, die kaputten Maschinen in alle Einzelteile zerlegt und repariert.

Die Kinder der Nachbarin mögen den Onkel von nebenan. Sie bleiben bei ihm, während die Mutter hamstern geht. Und Horst ist nicht nur in die Kinder vernarrt, sondern bald auch in die Mutter. Katharina stammt aus Schlesien, ihr Mann ist aus dem Krieg nicht zurückgekommen. Für sie und für Horst ist das jetzt die große Liebe.

Einmal kommt eins der Mädchen weinend aus der Schule, sie sollte einen Aufsatz über ihren Vater schreiben, aber sie hat doch nur „diesen Onkel“. Da steht Horst Wiessner auf und sagt: „Wir heiraten.“ Seine Familie erklärt ihn für verrückt.

Der Kiez verändert sich. Arbeiter aus der Türkei ziehen her, viele Häuser sollen abgerissen werden, die Bezirksverwaltung setzt zuvor noch Sozialhilfeempfänger, Drogensüchtige und obdachlose Jugendliche rein. Die Wiessners wollen wegziehen, wie so viele andere, sie hadern, bringen es nicht übers Herz. Sie lieben ihr Kreuzberg, obwohl es sich so verwandelt hat.

Sie steigen auf, in den elften Stock des Neuen Kreuzberger Zentrums, eines riesigen, hässlichen Neubaublocks für 1200 Menschen. Hier, ganz oben, findet Wiessner seine Traumwohnung mit Wintergarten und Dachterrasse.

Als er in den Ruhestand geht, entdeckt er seine Berufung: das Ehrenamt. Die türkischen Nachbarn haben Probleme mit den Ämtern und mit der Hausverwaltung. Wiessner richtet einen regelrechten Sprechstundenbetrieb ein, schreibt Briefe, begleitet sie zu Behörden, legt Dokumentenordner für sie an. Er macht die Betriebskostenabrechnung für das ganze Haus, weil man sich auf die Hausverwaltung nicht verlassen kann. Er ist Mitglied im Mieterbeirat, in Nachbarschaftsvereinen, engagiert sich für die Bibliothek und fürs Museum. Überall übernimmt er den Schriftverkehr. Für die Kinder muss ein Spielplatz her, der Bezirk hat gerade das Geld für den Bau, aber nicht für die Pflege. „Darum kümmere ich mich“, sagt er. Früh um vier steht Wiessner auf, sammelt Bierdosen, Scherben und Spritzen auf und wischt die Spielgeräte ab.

Katharina sieht ihn an, an einem Sommermorgen, neigt den Kopf zur Seite, sagt: „Die Haare sind zu lang“ und holt die Schere. Das macht sie von jetzt an immer so. Als sie krank wird, pflegt er sie, sechs Jahre lang. Kurz bevor sie stirbt, sagt sie: „Jetzt kannst du bald wieder zum Frisör.“ Von da an trägt Wiessner die Haare lang, zu einem Zopf zusammengebunden. Da lässt er niemanden mehr ran.

An jedem 13. des Monats, das ist Katharinas Todestag, fährt er nach Tegel, wo sie beerdigt ist. Er bringt ihr Blumen. Sie muss ihm nach ihrem Tod, da ist er sicher, Naz geschickt haben. Naz ist eine zierliche türkische Frau mit raspelkurzen Haaren. Sie hat ein Café in seiner Nähe aufgemacht. Als sie gerade vor dem Laden Laub wegfegen will, kommt Wiessner vorbei, Arbeitssachen, Handschuhe, Staubsauger in der Hand. „Ich mach das schon, junge Frau“, sagt er. Und sie: „Nein, nein, auf keinen Fall. Ich mach das.“ So geht es hin und her.

„Darf ich Sie dann wenigstens zum Essen einladen?“ – „Ich kann nicht, ich muss arbeiten.“ Aber Hunger hat sie schon. Vielleicht Fisch? Er verschwindet für eine halbe Stunde, kommt wieder mit Fischstäbchen, Kartoffelpüree, Servietten, Tellern und Besteck. Die beiden rücken zusammen. Bald nennen sie sich „ein Team“, die kleine türkische Frau und der deutsche Mann mit dem grauen Zopf. Alle hier kennen sie. Manche tuscheln. Abends sitzt er in ihrem Café, trinkt Rotwein, Cabernet Sauvignon, obwohl sie die Sorte gar nicht führt. Wiessner bringt die Flaschen selbst mit und will trotzdem jedes Glas bezahlen. Da nimmt sie den Wein ins Sortiment.

Er kümmert sich um ihre Finanzen und den Schriftverkehr, hilft manchmal im Café aus. Sie kocht für ihn, manchmal laden sie Freunde ein. Er peppelt sie nach einer langen Krankheit auf. Sie bleibt bei ihm bis zum Schluss.

Der Kinderspielplatz am Kottbusser Tor ist längst verwahrlost. Irgendwo dort soll bald eine Gedenksäule für Horst Wiessner stehen, mit einem grünen Dach, so grün wie sein Garten, oben im elften Stock, ein paar Zentimeter unterm Himmel. Sandra Stalinski

Sandra Stalinski

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