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Hundertjährige in Tempelhof-Schöneberg: Jeder Tag ein Wunder

Auf den Straßen sieht man sie so gut wie nie - Menschen, die hundert oder älter sind. Eine Ausstellung in Tempelhof-Schöneberg zeigt, wie hochbetagte Berliner aussehen, leben, denken.

Wenn der alte Mann einem die Hand drückt, ist das ein wenig als suche er einen Anker zur Welt. So lang hält Otto G. sie fest, so entschlossen zieht er sein Gegenüber zu sich herüber, um es ausführlich zu mustern. „Sie sind ja doch älter als 18“, sagt er und spielt den Enttäuschten, „eben auf der Treppe sahen sie jünger aus.“ 102 wird der alte Mann im Oktober, aber das Schäkern hat er noch nicht verlernt. Das Leben auch nicht, seine Augen sprühen vor Schalk. Gleich darauf schauen sie zunehmend fragend, Otto G. hat sein Hörgerät nicht drin. Liegt auf dem Wohnzimmertisch.

Natürlich kommt er am Dienstag zur Eröffnung der Ausstellung, in der es um ihn und seinesgleichen geht, um Menschen, die ein Kaiserreich, zwei Republiken, eine Diktatur und zwei Weltkriege erlebt haben, um Hundertjährige in Tempelhof-Schöneberg. „Vielleicht bin ich ja ein Wunder“ heißt die von Sibyll Klotz, Stadträtin für Gesundheit und Soziales, initiierte Schau im Rathaus Schöneberg. Sie vereint gleich drei Fotoprojekte, die sich mit den Menschen beschäftigen, die das Gedächtnis und Gesicht Berlins sind. Auch wenn man sie auf der Straße nirgends sieht.

Das sei genau der Punkt, sagt Marion Schütt. „Hundertjährige sind im Alltag unsichtbar, außer Jopi Heesters.“ Die Historikerin und Dokumentarfilmerin hat das Herzstück der Ausstellung fabriziert: Fotos und Interviews von neun Frauen und zwei Männern im Bezirk, die hundert Jahre oder älter sind. Ihr Leben ist per Porträt, Jugendfotos, Text und Interviewauszug an Hörstationen zu erfahren. Natürlich auch das von Otto G., der, bevor er 1969! in Pension ging, 30 Jahre lang Feuerwehrmann war.

Die Gerontologin Ariane Rausch vom Pflegestützpunkt Reinhardtstraße in Tempelhof erklärt, warum Hochbetagte nicht im Fokus der Öffentlichkeit stehen: „Junge leben bei uns in einer Willkommens- und Alte in einer Rückzugskultur.“ Allein die Tatsache, dass in Tempelhof-Schöneberg – nach Steglitz-Zehlendorf und Charlottenburg-Wilmersdorf der Bezirk mit den meisten Hundertjährigen – fast 200 von ihnen leben, überrascht komplett.

Gegen diese Ignoranz fotografiert der Logopäde Lothar Adler schon seit 1999 mit seiner „Galerie der Hundertjährigen“ an. 68 seiner inzwischen hundert Porträts sind im Rathaus Schöneberg zu sehen. Sonst hängen sie in der Geriatrie des Wenckebach-Klinikums. Die porzellanhäutigen oder fleckigen, furchigen oder fein gefälteten Gesichter mit ihrem offenen oder abweisenden Blick sind eine wahrhaft beeindruckende Galerie in Schwarz-Weiß. Er bemühe sich, nicht durchgehend das Klischee des heiteren Seniors zu bedienen, sagt Adler über die von ihm fotografierten Patienten. „Altwerden ist nicht immer lustig.“

Der Fotograf Klaus Thormaehlen dagegen, dessen schon vor einigen Jahren als Buch erschienenes Berliner Fotoprojekt „Jahrhundertmensch“ der dritte Teil der Ausstellung ist, ästhetisiert die Schönheit des Alters in seinen großformatigen Farbfotos etwas mehr.

Margarethe D. ist eine der von Marion Schütt porträtierten hundertjährigen Frauen. Die zarte, elegant gekleidete Dame lebt in einem kleinen Appartement im Ruhesitz am Zoo, der gerade noch in Schöneberg liegt. Dass jetzt schon wieder jemand kommt, um sie nach ihrem diskret gelebten Leben zu befragen, ist der ehemaligen Chefsekretärin eher unangenehm. „Ich stehe nicht gern im Mittelpunkt“, sagt sie und lacht verlegen, fast mädchenhaft. Zwei Ehemänner hat sie überlebt, immer mehr den Beruf als den Haushalt geliebt, ist gern gewandert und gereist und kann es nicht fassen, so alt geworden zu sein. „Hätte ich mir nie träumen lassen“, sagt sie. „Wo ich doch gar nichts dafür getan habe.“

Theater, das war ihre Leidenschaft. Sie hat die Nazis marschieren, die Bomben fallen und Gustav Gründgens den Mephisto spielen sehen. „Obwohl ich den René Deltgen als Faust viel besser fand.“ Was ihre erste Erinnerung ist? Der Moment als mein Vater in den Ersten Weltkrieg zog, sagt sie, in den Ersten wohlgemerkt. 1914 ist sie drei und sie leben in Kreuzberg, Köpenicker Straße. „Da steht er so in der Tür und schaut zum Abschied noch mal auf uns Kinder zurück.“ Sorgen um ihre Existenz habe sie sich in allen Turbulenzen der Weltläufte eigentlich nie so sehr gemacht, erzählt die alte Frau, die nur noch schwer hören, lesen oder fernsehen kann.

Jeder 10 000. Deutsche wird heute hundert – mit steigender Tendenz. Logopäde und Fotograf Lothar Adler erlebt das seit einigen Jahren an seinen Patienten. Aber auch wenn die durchschnittliche Lebenserwartung pro Jahr um drei Monate zunimmt, wie Altersforscher sagen, ist längst nicht klar, ob das auch für die Gruppe der extrem Hochbetagten gilt. Die Forschung nennt als Gründe für Langlebigkeit: Gene, Bewegung, gesunde Ernährung und soziale Kontakte. Ausstellungsmacherin Schütt hat bei ihren Gesprächen noch festgestellt: „Das sind alles Leute, die ihr Leben mit einer positiven Haltung meistern.“

So wie Otto G., gebürtiger Westpreuße, gelernter Maler, Großvater, Urgroßvater, der in seiner Wohnung in der Malteser Straße lebt und noch selbst die Gardinen wäscht. Haushalt führen ist er gewohnt, hat jahrelang seine demente Ehefrau gepflegt, mit der er 70 Jahre verheiratet war. Jetzt sieht seine Tochter nach ihm, die 70 ist. Ängstlich sei er als Feuerwehrmann nie gewesen, sagt er, gearbeitet habe er viel. Und das Alter, ist das eine Last oder ein Segen? Ein Segen, sagt er. Den Tod fürchte er nicht. Leicht schwankend zeigt er zum Abschied die blitzblanke Wohnung. Die Hand hält er sehr lange fest.

„Vielleicht bin ich ja ein Wunder – Hundertjährige in Tempelhof-Schöneberg“, Rathaus Schöneberg, John-F.-Kennedy-Platz 1, 7. September bis 31. Oktober, Eröffnung: 6. September, 16 Uhr, Eintritt frei

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