zum Hauptinhalt

Berlin: ICC: Ungetüm mit Beton-Lunge und Stahl-Herzen

Im Bauch des Kolosses ist die Außenwelt nur noch eine vage Idee. Ein Hohlraum, umgeben von 3000 Waggonladungen Stahlbeton.

Im Bauch des Kolosses ist die Außenwelt nur noch eine vage Idee. Ein Hohlraum, umgeben von 3000 Waggonladungen Stahlbeton. "Kanaltunnel" steht an einer feuerfesten Tür. Die Wände halten sich an keine Geometrie. Nach Süden verläuft ein ansteigendes Plateau aus zwei Fahrspuren, das sich nach einer weiten Kurve plötzlich senkrecht nach oben windet, verjüngt zu einem Luftkanal, dessen Ende in einer offenen Spindel ausläuft - unerreichbar. Der Hohlkörper ist beim Planen einfach übrig geblieben. Ein Kerker ließe sich hier einrichten. Stattdessen nutzen Filmfirmen den Tunnel seit vielen Jahren als billiges Studiogelände. "Der Fahnder" wurde hier gedreht.

Das ICC ist kein Gebäude, sondern ein Ungetier mit riesigen Lungen aus Beton und Blech, kilometerlangen Nervensträngen aus Kupfer und Glasfaser sowie einer Haut aus Aluminium. In den Ebenen über der Erde können bis zu 10 000 Besucher Probleme wälzen oder sich amüsieren. In den Ebenen unter der Erde befinden sich die lebenserhaltenden Organe, verbunden durch ein unüberschaubares Gewirr von Gängen, Treppen und Türen. Hier ist das Reich von Heinz Telgen, dem Technischen Leiter der Messegesellschaft. Der Mann im grauen Anzug baute einst Schiffe auf der Papenburger Werft und wurde dann Bauleiter für die Klimatechnik im ICC. Er kennt jeden Winkel des 320 Meter langen Kolosses und ist noch heute stolz auf das Haus, ein weltweites Unikum, das 20 Jahre nach der Fertigstellung an einigen Stellen wie ein technisches Museum wirkt. Aufwändig gravierte Schilder weisen Firmen aus, die längst vom Markt verschwunden sind. Der zentrale Kreislauf des ICC ist ein 600 Meter langer Ringkanal aus Rohrleitungen für Frischwasser, Abwasser und Heizung, der sich in 16 Metern Tiefe auf dem Fundament durch das ganze Gebäude zieht.

Auf der westlichen Seite liegt das Herz, eine große Halle mit Elektromotoren und symmetrisch angeordneten Rohrsträngen. Hier wird das Blut - 150 Grad heißes Wasser, das in Wärmetauschern auf 95 Grad heruntergekühlt wird - in die Adern des ICC gepumpt. Das Heißwasser kommt durch einen begehbaren unterirdischen Tunnel, den "Ho-Tschi-Minh-Pfad", vom Kraftwerk des Messegeländes. Die Atmung des ICC funktioniert dagegen autonom. Mannshohe Ventilatoren saugen aus 30 Meter hohen Türmen an den Längsseiten des Baus Frischluft und drücken den Luftstrom durch meterhohe Wände aus Lappenfiltern, die den Staub aufhalten.

So hätte sich Dante die Luftzufuhr für das große Fegefeuer gewünscht. Sind alle Ventilatoren in Betrieb, bewegen sie ein Volumen von 1,5 Millionen Kubikmetern. In den Wochen nach der Tschernobyl-Katastrophe schlugen die Geigerzähler im Luftstrom kräftig an, erzählt Telgen. Da kamen die Verantwortlichen mächtig ins Schwitzen. Doch in den Filtern blieben die gefährlichen Partikel hängen. Die verschmutzten Filter wurden später als Sondermüll - mit Devisen versilbert - der DDR überlassen. Die Luft wird in vier Klimazentralen temperiert, befeuchtet und durch ein Leitungssystem von 20 Kilometer Länge in alle Räume des Hauses verfrachtet. Parallel dazu verlaufen Schächte, die im Brandfall die Rauchgase nach draußen schaffen.

Für die Sprinkleranlage gibt es in der untersten Etage, 15 Meter unter der Eingangshalle, ein zentrales Becken mit 110 Kubikmeter Löschwasser und Pumpanlagen. Wände strahlen in Weiß, Rohranlagen und Pumpen in Blau oder Rot. Alles wirkt wie frisch gestrichen. Bei der Wartung sei auch die Optik wichtig, sagt Telgen. Das ICC soll in Gänze präsentabel sein. Das Gewirr der Technik lässt sich schadlos im Zweireiher durchmessen. Auf einigen Estrichböden hat sich etwas Schmutz gesammelt. Man könne die Putzfrauen nicht mehr überall hinschicken, entschuldigt der Technische Leiter. Der Kostendruck macht sich langsam bemerkbar.

Auf dem Weg durch die Innereien des ICC geht man nur selten gebeugt. Es wurde großzügig und solide gebaut. Vor allem aber wurde zu teuer gebaut, sagt Messesprecher Michael Hofer. Das würde man heute viel günstiger realisieren. Das größte Kongresszentrum Europas sollte anfangs 200 Millionen Mark kosten - tatsächlich überschritt der Bau zuletzt die Schallgrenze von einer Milliarde Mark. Ein Armada von Ingenieuren erfand immer neue technische Sonderlösungen. Das Ungetier ICC verschlingt jährlich so viel Strom und Wasser wie eine Kleinstadt. 15 Millionen Kilowattstunden gehen allein für die Klimatisierung drauf. 40 Rolltreppen und 32 Aufzüge lassen die Zählerscheiben routieren.

Zur Eröffnung des Kongresszentrums 1979 sei noch doppelt so viel Strom verbraucht worden, erklärt Telgen. Von 10 hauseigenen Trafos sind nur fünf in Betrieb. 60 000 Glühbirnen und Leuchtröhren habe man durch energiesparende Varianten ersetzt. Auf die flächendeckende Auslegeware mit dem markanten grünen Kugelmuster, eigentlich kongressuntauglich, will man jedoch nicht verzichten. Jeden Sommer müssen große Teile ausgetauscht werden, da sie abgenutzt sind. Die Reinigung der Aluminiumhaut - eine Oberfläche von 25 000 Quadratmeter - ist eine Sisyphusarbeit.

Die Betriebskosten übersteigen den Umsatz des ICC - im Rekordjahr 2000 waren es immerhin 24 Millionen Mark - um rund 30 Millionen Mark. Die Summe bewege sich im üblichen Rahmen, so Hofer. Kongressgebäude dieser Größenordnung würden sich auf der ganzen Welt nicht rechnen. Telgen fürchtet sich schon heute vor einem "Crashkurs" für das ICC - wenn nicht mehr gewartet, sondern nur noch repariert wird. Dann könnte dem Ungetier mitten im Kongresstreiben mal die Puste ausgehen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false