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Berlin: „Ich war ein Besatzer“

Tagesspiegel-Redakteur Harald Schumann kam 1990 als Chef zur Ost-Zeitung – und wusste von nichts

Natürlich kamen wir als Besatzer. Der Westen hatte den Kalten Krieg gewonnen, die Wiedervereinigung war ein „Beitritt“ zur Bundesrepublik und nach Meinung der einfallenden Sieger hatten die Ossis noch viel zu lernen, oder? So jedenfalls muss es den ostdeutschen Kollegen erschienen sein, als der SpringerVerlag damals, im Juni 1990, den Ost-Berliner „Morgen“ übernahm und drei westdeutschen Jungdynamikern die Leitung der 150-köpfigen Redaktion übertrug. Ein Ex-Ressortleiter vom „Spiegel“ und vordem Macher eines Zeitgeist-Magazins wurde Chef einer zunächst rein ostdeutschen Crew. Ihm zur Seite stand ein Kreativ-Täter aus dem Hamburger grün-alternativen „taz“-Milieu und ich selbst, ein weiterer Möchtegern-Chef mit damals gerade mal sechs Jahren Berufserfahrung bei „taz“ und „Spiegel“.

Doch was als Kolonisierung begann, geriet für alle Beteiligten alsbald zu einem grandiosen kollektiven Lernprozess. Gewiss, wir Wessis waren zunächst in jeder Hinsicht im Vorteil. Wir hatten die Erfahrung im Zeitungmachen nach West-Standard, wir setzten die Erfolgskriterien. Aber ganz gleich, welche Überlegenheitsgefühle da zunächst aufkamen, nach ein paar Wochen war davon wenig übrig. Denn wir hatten ja vom wichtigsten Gegenstand der Berichterstattung keine Ahnung: dem Umbruch der DDR-Gesellschaft. Die Ost-Kollegen hatten wenigstens das Westfernsehen gehabt, und so zumindest eine Vorstellung von den Verhältnissen, aus denen wir kamen. Wir Wessis dagegen hatten nur unsere Ignoranz, davon aber reichlich. Ich wusste über Nicaragua mehr als über Leben und Politik in der DDR. Wenn es darum ging, herauszufinden, was die Leser wissen wollen, konnten wir Chefs nur raten.

Staunend lauschten wir den Erzählungen vom alltäglichen Kampf mit dem Moloch der Parteibürokratie, mal um die Würde, mal um Ersatzteile. Voll Schaudern erfuhren wir vom Umgang mit der Stasi-Plage. Zuweilen befiel mich die Scham ob meiner politischen Blindheit. Aus Furcht vor falscher Zuordnung zum Lager der Kalten Krieger war die brutale Repression hinter der Mauer nie mein Thema gewesen. Nun bekam ich beigebogen, dass die grüne Vorkämpferin Petra Kelly mit ihrem Protest gegen das DDR-Regime die Königin unter den blinden westdeutschen Linken gewesen war.

Ins Staunen geriet umgekehrt so mancher Ost-Kollege, als die westdeutschen Angeber ultimativ die aktive Nutzung der Pressefreiheit forderten. Unkritische Jubelartikel kamen gar nicht gut an. Das war nun das genaue Gegenteil der früheren Verhältnisse. Die Verwirrung war aber nur von kurzer Dauer. Dann erfüllten sich viele den – zuvor unerfüllbaren – Traum vom publizistischen Angriff auf die früheren Unterdrücker oder die westdeutschen Kolonisatoren, die sich ungeniert am ostdeutschen Volkseigentum bereicherten. Die Redaktion wirkte zuweilen wie von der Leine gelassen. Binnen weniger Monate räumte sie gleich mehrere Preise ab. Und das obwohl wir ununterbrochen mit Debatten beschäftigt waren.

Denn die innerredaktionelle Ost- West-Auseinandersetzung nahm an Intensität eher zu als ab. Zwar kapierten die Ossis bald, dass ein offensiv vorgetragenes Argument nicht gleich als Vernichtungsangriff gemeint war. Wir lernten dafür, auch eine vorsichtig formulierte Frage als ernsten Widerstand zu interpretieren, den man nicht einfach übergehen durfte. Doch derlei Lernerfolge schafften bestenfalls Brücken über den Graben zwischen den Kulturen, verdecken konnten sie ihn nicht, zu ungleich verteilt waren Vor- und Nachteile. „Die Ossis beneideten uns um die Freiheiten, mit denen wir selbstverständlich umgingen. Und sie hassten uns dafür, dass wir uns dieses Privilegs nicht bewusst waren“, resümiert der damalige Chefredakteur Dieter Degler die kuriose Beziehungsdynamik jener schönen, wilden Zeit, die leider allzu schnell zu Ende ging. Das Blatt verlor mit dem Zusammenbruch des DDR-Postvertriebs an Lesern und zugleich seinen Unterstützer im Konzern-Vorstand. Der neue konzerneigene Vertrieb stellte nur die Westblätter zu. Ein Jahr nach dem Start bezahlte die neue Morgen-Redaktion die politische Freiheit mit ihrer wirtschaftlichen Unfreiheit. Der Morgen wurde geschlossen.

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