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Berlin: Ihr Feind ist die Familie

Seit Nurays zwölftem Lebensjahr stand fest: Sie heiratet einen Mann aus der Türkei, den ihr Vater für sie ausgesucht hat. Als sie sich widersetzt, ist ihr Leben bedroht. Sie muss vor ihrem Clan fliehen - in eine andere Stadt und unter Polizeischutz

Von Sabine Beikler

Sie kann nicht schreien. Todesangst schnürt ihr die Kehle zu. Sie ist gefangen in diesem Auto, um sie herum Männer, die sie mit einer Pistole zum Einsteigen gezwungen haben. Die Waffe, unaufhörlich muss sie sie anstarren. Die Männer wollen sie umbringen. Weil sie sich widersetzt hat, weil sie der Familie nicht gehorcht. Sie zwingt sich nachzudenken. Beruhige dich, Nuray. Beruhige dich. Eine kleine Ewigkeit später ein Geistesblitz. Das muss sie versuchen, das ist ihre letzte Chance. Sie tischt den Männern, von denen einer ihr Vater ist, eine Lüge auf. Diese Lüge rettet ihr das Leben.

Nuray ist 26 Jahre alt. Sie wächst mit drei Geschwistern in Berlin auf, in einer konservativen Familie. Die Eltern stammen aus Izmit im Westen der Türkei, leben als streng gläubige Muslime. Nuray muss seit ihrem siebten Lebensjahr Kopftuch tragen, muss nach der Schule sofort nach Hause kommen. Früh hat sie gemerkt, dass die Schule ihr Freiheiten eröffnet: Nuray darf nachmittags an Arbeitsgemeinschaften teilnehmen und muss nicht gleich nach Hause. Sie schreibt immer gute Noten, wird Klassenbeste und hofft, dass ihre Eltern sie auch nach der zehnten Klasse auf eine weiterführende Schule gehen lassen.

Nuray will nicht in die Türkei zurück. Dort wartet der Mann auf sie, mit dem sie verheiratet werden soll. Er ist zwölf Jahre älter als sie, ein Cousin zweiten Grades, der in Konya in Mittelanatolien als Taxiunternehmer arbeitet. Als Zwölfjährige hat sie ihn während eines Familienurlaubs das erste Mal gesehen. Das letzte Mal vor fünf Jahren. Danach nicht mehr.

Sie steckt all ihre Kraft in die Schule und darf nach dem Abitur eine Ausbildung als Arzthelferin machen. Nuray will lieber Medizin studieren, doch das verbieten ihr die Eltern. "Eine vernünftige Frau", sagt ihr Vater, "braucht so etwas nicht." Der Familienclan fürchtet, dass sie einen Studienplatz in einer anderen Stadt bekommt und nicht mehr beaufsichtigt werden kann, glaubt sie. In Berlin hat sie eine "Aufsicht": Ein guter Freund des Vaters wird ihr Aufpasser. Oft ist er bei der Familie zu Besuch. Er holt sie von der Arbeit ab, wartet vor der Tür, wenn sie einkaufen geht, sie sieht ihn auch mal "zufällig" auf der Straße, wenn sie mit türkischen Freundinnen spricht. Ein Schatten, der ihr folgt.

Bis vor zwei Jahren hat es Nuray nicht ernst nehmen wollen, wenn ihre Eltern mit ihr über die Heirat in der Türkei gesprochen haben. "Er wird ein guter Mann sein", haben sie gesagt. "Im Spaß", wie Nuray glaubte. "Nein, ich will nicht", hat sie dann geantwortet.

Doch Vater und Mutter wurden immer deutlicher. "Du bist unsere Tochter. Wir entscheiden, wen du heiratest", haben sie gesagt. Eine Widerrede dulden sie nicht. Von der Mutter wird sie geschlagen. Nuray weiß, dass sie sich gegen die Eltern nicht weiter auflehnen kann. Sie würden sie nicht mehr weiterarbeiten lassen.

Die Drohungen werden schärfer. "Wage nicht einmal, ans Weglaufen zu denken", sagt der Vater. "Wir würden dich töten. Egal wann, egal wo, egal wie alt du bist." Das hört sie fast täglich. Zu Hause reden der Vater und ihr Aufpasser über Mädchen, die die Ehre der Familie verletzen. Erzählen, dass mit ihnen "Schlimmes" passiert, wenn sie gefunden werden. Das schüchtert Nuray ein. Und irgendwann sagt sie es. Sagt, dass sie diesen Mann heiraten werde. Nur ihre Ausbildung möchte sie noch beenden.

Doch Nuray schiebt den Zeitpunkt der Zwangsverheiratung hinaus. Sie arbeitet als Arzthelferin in einer türkischen Praxis. Der Arzt schätzt sie und schickt sie auf Fortbildungen. Ist ein Kurs beendet, kommt der nächste dran - eine stillschweigende Abmachung zwischen den beiden.

An einem Januartag sucht Nuray zu Hause nach Familienunterlagen. Da fallen ihr Flugtickets in die Türkei in die Hände, für den Vater, die Mutter und für sie. Abflugtermin ist drei Wochen später. Nur noch so wenig Zeit. Sie plant ihre Flucht: Über eine Frauennotrufnummer sucht sie einen Platz im Frauenhaus. An einem Sonntagabend geht Nuray fort von zu Hause. Sie hat eine kleine Tasche bei sich, ihren Ausweis, etwas Bargeld und eine Bankkarte. Sie zittert am ganzen Körper. In ihr altes Leben wird sie nicht mehr zurückkehren können.

Einen Tag später meldet sie sich in Berlin um. Sie geht mit einer besonderen Bescheinigung, die alle Frauenhäuser schutzbedürftigen Frauen ausstellen, zur zuständigen Meldebehörde. Mit der Ummeldung ist eine sofortige Auskunftssperre verknüpft. Eine Woche später will sie zur Bank, um nach ihrem Kontostand zu schauen. Begleitung? Nicht nötig. Nuray fühlt sich sicher.

Das Unfassbare geschieht: Als sie aus der Bank kommt, halten sie zwei türkische Männer von hinten fest. 25, vielleicht 30 Jahre alt sind die Kerle. Raunen ihr zu, sie soll mitkommen und nicht schreien.

Sie spürt eine Pistole in ihrem Rücken. Die Männer schleppen sie in ein Auto. Per Handy verständigen sie Nurays Vater. Auf ihre Fragen antworten sie nicht. Auf der Konsole sieht Nuray ein Foto von sich. Sie weiß: Ihr Vater hat Leute angeheuert und sie suchen lassen.

Nach einer Dreiviertelstunde steigt der Vater ein. Sie fahren umher, Nuray weiß nicht, wo sie ist. Der Vater fragt sie, wo sie untergekommen ist. Nuray sieht die Pistole. Sie fürchtet, der Vater oder seine Helfer werden sie töten.

Der Geistesblitz. Nuray sagt, sie habe einen Brief im Frauenhaus hinterlassen, in dem stehe, ihre Familie habe sie umgebracht. Wenn sie nicht nach zwei Stunden zurück sei, werde der Brief geöffnet. Die Männer glauben ihr zunächst nicht, doch allmählich werden sie unsicher. Sie zwingen sie, die Frauenhaus-Adresse zu nennen, fahren sie vor das Gebäude. Nuray sagt zu, ihre Sachen herauszuholen. Ihr Vater und die Männer müssten draußen warten.

Die Betreuerinnen im Haus rufen sofort die Polizei. Nach zwei Minuten sind sechs Beamte da. Das Auto und die Männer sind verschwunden. Die Polizei weiß, Nuray befindet sich in Lebensgefahr. Zwei Beamtinnen schützen sie im Haus, drei Polizeiwagen stehen davor. Innerhalb von zwei Stunden wird für Nuray eine neue Zufluchtsstätte gefunden. Die Polizei bringt sie direkt bis zum Flugzeug. Ein paar Stunden später kommt sie in einer fremden Stadt an - verkleidet, mit Perücke. Die örtliche Polizei wartet auf sie und fährt sie zu einem anderen Frauenhaus.

Nuray sucht jetzt Arbeit. Sie sagt, es gehe ihr gut. Aber sie hat Angst. Angst, überall beobachtet zu werden.

Die Serie

Erst kamen sie als Näherinnen und Fließbandarbeiterinnen, dann nur noch als Ehefrauen und Töchter: Rund 40 Jahre nach Beginn der türkischen Einwanderung leben rund 70000 Türkinnen in Berlin, etwa ein Drittel von ihnen mit deutschem Pass. Das Bild, das sich Deutsche von Türkinnen machen, hat wenig Nuancen. Es ist das Bild einer Frau, die mit Kindern an der Hand durch Kreuzberg oder Neukölln geht. Notiz von ihnen nimmt die Öffentlichkeit meist nur, wenn über die Kopftuchfrage diskutiert wird oder wenn Verbrechen passieren: Allein in Berlin wurden in den vergangenen Monaten sechs Türkinnen Opfer so genannter Ehrenmorde, weil sie selbstbestimmt leben wollten. Deutsche können nur ahnen, in welchem Zwiespalt viele türkische Mädchen und Frauen leben: zwischen patriarchalischen Familienstrukturen und westlichem Lebensstil. Unsere sechsteilige Serie über türkischstämmige Frauen in Berlin will diesen Zwiespalt beleuchten, die mit ihm verbundene Not, die verschiedenen Möglichkeiten, in einer Existenz zwischen zwei Kulturen zu (über)leben. Die Serie schildert Schicksale, lässt Experten zu Wort kommen, nennt Adressen und Hilfsangebote. Doch es wird nicht nur um misslungene Beispiele von Integration gehen, sondern auch um Frauen, die längst in Deutschland angekommen sind. Die sich im Schul- und Berufsleben behaupten - mit oder ohne Kopftuch. (Der Tagesspiegel, 04.04.2005)

Diese Serie finden Sie in Kürze auch in türkischer Übersetzung unter www.tagesspiegel.de/tuerkinnen ()

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