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Beschlagnahmte Zigaretten ohne Steuerbanderole. Das Unrechtsbewusstsein der Bürger erodiert.

© dpa

Illegaler Verkauf: Zigarettenschmuggel: Berliner Alltäglichkeit

Zigarettenschmuggel ist ein Milliardenschaden fürs Land. Mehr aber auch nicht. Fahnder sagen: Der macht keinen Ärger, also hat er keine Priorität. In Berlin nimmt der illegale Verkauf ständig zu.

Das Geschäft dauert nur Sekunden. Ein Mann um die 50, vergilbter Bart, Schirmmütze, ist den Bürgersteig entlanggeschlendert gekommen, vor Hausnummer 33a bleibt er stehen. Einem jungen Asiaten, der dort vor der mit Edding beschmierten Tür eines Lastenaufzugs lehnt, drückt er 22 Euro in die Hand. Der Asiate fingert aus einer Umhängetasche eine Stange Zigaretten. Eilig greift der Mann danach, schiebt sie unter seine Lederjacke. Es ist das einzige Zeichen dafür, dass zumindest einer von beiden weiß, wie verwerflich ihr Geschäft ist – in diesem Augenblick gehen dem Staat 29 Euro Steuereinnahmen verloren.

„Wenn Vater Staat uns bescheißt, dann bescheißen wir ihn auch“, sagt der Mann mit seinem Schäferhundmischling an der nächsten Straßenecke trotzig. Er fühlt sich keineswegs ertappt. Die geschmuggelte Stange spannt unter seiner Jacke. „Einfache Leute können sich Zigaretten regulär gar nicht mehr leisten, so hoch wie die Tabaksteuer mittlerweile ist.“ Diejenigen, die das Rauchen immer teurer machten, die Politiker, seien ja selbst nur auf ihren Vorteil bedacht, ätzt er. „Da habe ich kein schlechtes Gewissen.“

Der illegale Verkauf geschmuggelter Zigaretten nimmt in Berlin ständig zu. Die Bundeshauptstadt ist auch die Hauptstadt des Zigarettenschwarzmarkts. Eine Ipsos-Studie, die auf der Zahl leerer Zigarettenschachteln im Müll basiert, kommt zu dem Ergebnis, dass rund die Hälfte der jährlich in Berlin gerauchten Zigaretten nicht in Deutschland versteuert wurden. Der Steuerausfall beläuft sich deutschlandweit auf mehr als vier Milliarden Euro. Zur beliebtesten Marke Berlins hat es so eine Zigarette gebracht, die in Deutschland legal nicht zu kaufen ist: Jin Ling. Die hellgelbe 20er-Schachtel erinnert an eine Camel-Packung, wobei das Wüstenkamel durch eine Bergziege ersetzt worden ist. 600 Kilometer von Berlin entfernt, in Kaliningrad, produziert die Baltische Tabakfabrik die Zigarette völlig legal. Verkauft wird Jin Ling ab Werk, die Schachtel kostet 16 Cent, die Stange 1,60 Euro, gezahlt wird per Vorkasse. Wer die Käufer sind, und wohin die Ware anschließend geht, dafür interessiert sich der Hersteller nicht. Mal wird sie per Schiff in den Rotterdamer Hafen geschmuggelt, mal fahren Lastwagen sie auf direktem Weg durch Polen nach Deutschland. Die Gewinnmarge zwischen Werksverkauf und Straßenhandel in Berlin liegt bei 1250 Prozent.

„In der Lieferkette gibt es bis zu sieben Profiteure“, berichtet Norbert Scheithauer von der Berliner Zollfahndung. Er ist ein kerniger Typ, zwei Hemdknöpfe offen, und stolz auf seinen Job. An die Wand vor seinem aufgeräumten Schreibtisch hat er Zeitungsartikel über spektakuläre Erfolge des Zolls gehängt. Der jüngste ist von Mitte Dezember. Er kündet von bundesweit 35 Durchsuchungen, zeitgleich, auch in Berlin, von zehn Haftbefehlen und einer Million beschlagnahmter Zigaretten. So etwas soll ihm wohl auch Mut machen. Denn Scheithauer und seine Kollegen wissen viel. Nur ausrichten tun sie meist wenig.

Den Transport nach Deutschland übernähmen fast immer Polen oder Litauer, erzählt er. In Scheunen, Ruinen oder Lagerhallen im Berliner Umland würden die Zigaretten abgeladen und meist von vietnamesischen Mittelsmännern übernommen, die sie in kleineren Mengen per Transporter zu sogenannten Depotwohnungen in der Stadt brächten. Von dort versorgten Beschicker die Straßenhändler der vietnamesischen Mafia. Meist stehen die Verkäufer an Tram-, U- und S-Bahnhöfen oder vor Supermärkten und handeln völlig ungeniert und für jeden sichtbar. Fast alle Verkaufsplätze befinden sich in den östlichen Bezirken der Stadt. Von bis zu 400 weiß der Zoll.

"Selbst wenn wir 100 Zöllner mehr hätten, würden wir das Problem nicht in den Griff bekommen"

„Verdeckte Ermittler in dieses System einzuschleusen, ist unmöglich“, sagt Scheithauer. Es speise sich aus Familienclans, neue Mitglieder würden extra aus Vietnam nach Deutschland geschleust.

Für den Kampf gegen die illegale Zigarettenflut in der Stadt ist das Hauptzollamt Berlin zuständig. 30 Beamte beschäftigen sich hier mit dem Problem, aber auch mit vielen anderen. Die Zahl ihrer täglichen Einsätze auf der Jagd nach Jin Ling verraten sie nicht. Längst sind sie mit der Menge der Schmuggelware überfordert. Gerade einmal 27 Millionen Zigaretten konnten die Berliner Zöllner 2010 sicherstellen, schwarz geraucht wurden aber geschätzte 350 Millionen. Bernd Krömer, Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Inneres, bleibt denn auch mehr als nüchtern, wenn er sagt: „Der Erfolg ist überschaubar.“ Aus Ermittlerkreisen heißt es hinter vorgehaltener Hand, der Zigarettenschmuggel mache wenig Ärger und habe deshalb keine Priorität. Das lasse man laufen. Schließlich seien die blutigen Revierkämpfe der 90er Jahre lange vorbei.

Es wirkt wie ein beidseitiges Stillhalteabkommen zwischen Mafia und Staat. Die Behörden könnten auf der Straße härter durchgreifen, aber so lange die Schmugglerringe sich ruhig verhalten, ist die Gefahr für sie überschaubar. Was das für die Stadt bedeutet, ist schwer abzuschätzen. Der Verlust von Steuereinnahmen ist vielleicht sogar weniger schlimm als das erodierende Unrechtsbewusstsein der Bevölkerung. Was so normal ist wie ein Zigarettenschmuggler vor einem Supermarkt, kann nicht falsch sein.

„Selbst wenn wir 100 Zöllner mehr hätten, gäbe es keine Garantie, dass wir das Problem in den Griff bekommen würden“, sagt Michael Kulus vom Hauptzollamt. Aus seinem Frust macht er keinen Hehl. Fast immer kämen überführte Zigarettenhändler ungeschoren davon. Schnappen Kulus und seine Kollegen einen der Schmuggler, konfiszieren sie die Zigaretten, die sie bei ihm finden können. Oft sind es nur zwei Stangen, für die eine vergleichsweise milde Strafe droht. „Die Männer können sich nie ausweisen“, erzählt Kulus. Also kommt es zur erkennungsdienstlichen Behandlung, bei der fast alle Vietnamesen den gleichen Nachnamen angeben: Nguyen. Als Geburtsdatum nennen sie immer den 1. Januar. Erkenntnisgewinn gleich null.

Als Adresse geben die Zigarettenhändler Wohnheime an, in denen sie vielleicht heute noch offiziell gemeldet sind, morgen aber schon nicht mehr. Aussagen oder gar ein Geständnis macht niemand. Wenn schließlich die Fingerabdrücke genommen sind, ist der Schmuggler nach zwei, drei Stunden meist wieder auf freiem Fuß – ob er zum ersten oder zehnten Mal erwischt wurde. Denn es handelt sich „nur“ um ein Steuervergehen. Wenig später steht er wieder an seinem Verkaufsplatz. Die Steuerstrafbescheide des Gerichts laufen meist ins Leere. Dieser Fehler im System müsste vor allem behoben werden. Zöllner Kulus seufzt, ihm fehlt der Glaube daran. „Der Knackpunkt sind die Leute, die sich ihre Zigaretten schwarz auf der Straße besorgen“, sagte er. Die Vietnamesen würden nur solange dort stehen, wie es Käufer gibt.

Höchstens 2,50 Euro kosten Jin Ling und die anderen Marken bei den vietnamesischen Straßenhändlern pro Schachtel. Das ist halb so viel, wie für eine durchschnittliche Packung im Laden verlangt wird. Wer täglich etwas mehr als eine Schachtel Zigaretten raucht und sich diese schwarz auf der Straße besorgt, spart so im Vergleich zum legalen Kauf bis zu 1000 Euro im Jahr. Für Menschen mit niedrigem Einkommen oder kleiner Rente ist das eine Menge Geld. Das Risiko, erwischt und bestraft zu werden, ist dagegen gering: Das Verwarngeld für den Kauf von zwei Stangen beträgt 35 Euro.

Nach vorn gebeugt, mit mühsamen Schritten verlässt eine alte Frau von vielleicht 70 Jahren den Discountmarkt an der Greifswalder Straße, wendet sich nach rechts zur Nische mit dem Lastenaufzug. Der Vietnamese winkt freudig, man kennt sich. Die Frau drückt ihm abgezähltes Geld in die Hand, fast fürsorglich lässt er eine Stange Jin Ling in ihre Plastikeinkaufstüte gleiten. Die Seniorin zieht weiter. Der junge Mann, der gegen die Kälte eine Fellmütze trägt, greift in seine Hosentasche, zählt Münzen, eilt dann in einen Buchladen an der Straßenecke und tauscht an der Kasse sein Hartgeld gegen Scheine. Wie jeden Tag. Wechselgeld stinkt nicht. Und Scheine lassen sich besser verstecken, weiß der Schmuggler.

Das Geld liegt versteckt im Gleisbett

Wieder draußen, wickelt er seine Einnahmen in Papier und schiebt sie zwischen die Steine im Gleisbett der Tram, wenige Meter von seinem Verkaufsplatz entfernt. Sollten Zoll oder Polizei ihn überraschen, wäre das Geld in Sicherheit.

Auf dem Rückweg zum Lastenaufzug kommt der Vietnamese an einer Straßenlaterne vorbei. Routiniert schraubt er mit einem Dreikantschlüssel die längliche Abdeckung der Elektrik ab, bis zur Schulter verschwindet sein Arm in dem hohlen Pfahl. Nacheinander zieht der Mann zwei Zigarettenstangen heraus.

Niemand in den umliegenden Geschäften, eine Autoglasfiliale, eine Bäckerei, ein Schuhladen, schert sich darum. Das ist hier Alltag. Selbst der Verkäufer im Spätkauf um die Ecke, wo es regulär Zigaretten zu kaufen gibt, hat für das, was da vor seinen Augen geschieht, nur ein Schulterzucken übrig. Der Vietnamese bediene einen anderen Markt, heißt es. Wer wollte sich schon mit den Hintermännern anlegen?

„Ich frage mich, ob man das Problem wirklich lösen will“, gibt ein Mann zu bedenken, der auf der Jagd nach Schmugglern seit elf Jahren für den Tabakkonzern Reemtsma kreuz und quer durch Europa reist. Weil er in Mafiakreisen nicht noch berühmter werden will, möchte er seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. Am Telefon bemängelt er, dass die Einsätze des Zolls gegen den Straßenhandel in Berlin allenfalls stichprobenartig durchgeführt würden. Um die Vietnamesen von ihren lukrativen Verkaufsplätzen zu vertreiben, müssten die Zöllner immer wieder systematisch zugreifen. „Wenn die Zigarettenhändler dann nicht mehr vor den Supermärkten stünden, sondern in abgelegenen Seitengassen, könnten die Kunden den Kippenkauf nicht mehr einfach mit dem Einkaufsbummel verbinden.“ Nach Überzeugung des Schmuggelexperten würde das zumindest einen Teil der Käufer zum Umdenken bewegen. Ein Dealer, der sich verbergen muss, kann seinen Kunden nicht das Gefühl von Normalität vermitteln.

Uneigennützig sind die Ratschläge der Zigarettenindustrie an den Zoll nicht. Durch Schmuggel entsteht auch den Tabakkonzernen großer wirtschaftlicher Schaden. Vor allem aber hat die Tabaklobby für die Politik einen Rat: keine sprunghaften Erhöhungen der Tabaksteuer. „Jede starke Anhebung sorgt für eine Abwanderungsbewegung von Rauchern zum Schwarzmarkt“, heißt es seitens des Deutschen Zigarettenverbandes. Doch zum Jahreswechsel wurden Zigaretten gerade wieder teurer – und somit wohl auch der Umsatz der Zigarettenmafia.

Die Tabakkonzerne sind deshalb auch gern bereit, gutes Geld zu bezahlen für Insiderinformationen von redseligen Schmugglern. „Hier und da plaudert mal einer“, berichtet der Schmuggelexperte von Reemtsma. Dadurch hätten allein in Polen in der Vergangenheit 40 illegale Zigarettenfabriken geschlossen werden können, wo meist beliebte Marken wie Marlboro oder Gauloises gefälscht worden seien. Der Kampf gegen Jin Ling ist ungleich schwieriger.

Mit Blaulicht und Sirene rast ein Streifenwagen über die Greifswalder Straße, bremst vor den Gleisen. Die Polizisten steigen aus. Ein Lkw ist mit einer Straßenbahn zusammengestoßen. Die Unfallstelle liegt genau gegenüber des Supermarkts, vor dem der junge Vietnamese seine geschmuggelten Zigaretten verkauft. Manchmal schaut er rüber zu den Polizisten, die den Blechschaden begutachten. Aber nur manchmal. Er hat viel zu tun.

Knut Hansen

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