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Berlin: Ilse Schwipper (Geb. 1937)

Auch das Jenseits ist Teil des Systems, das es zu überwinden gilt.

Ihre Überzeugungen waren ungebrochen, bis zuletzt. So sagen es die Genossen und rufen ihr nach:

Salud y Anarchia!

Hinter dem Mercedes, der ihren Sarg ins Krematorium fährt, tragen junge Kampfgefährten die schwarze Fahne. Auch das Jenseits ist Teil des Systems, das es zu überwinden gilt.

„Ilse war eine von uns. Sie war Anarcha-Feministin, Antifaschistin, Stadtguerillera, Antiimperialistin. Sie lebt in uns und unseren Kämpfen weiter.“

Ilse presente!

Die Sprache der Revolution ist nun mal Spanisch. Da klingt das Pathos nicht so nach Klassenkampf und Vaterland. In Wolfsburg hieß sie einfach die „Rote Ilse“.

Ich träume noch immer von der Revolution. – Dieser Satz ist von Ilse persönlich. Ein zwiespältiges Bekenntnis, denn Träume mindern die Kampfkraft und sind deshalb streng genommen erst nach der Revolution zuzulassen. Auch mit den Tränen verhält es sich so. Es gab Momente, da kamen keine Tränen mehr, weil es keine Hoffnung mehr gab.

1981 ist Ilse nach sieben Jahren Untersuchungshaft psychisch ausgeblutet. Ihr rundes Gesicht ist zu einer leblosen Fläche erstarrt, die Augen wirken ausgebrannt. Eine Kamera zeichnet diesen Moment auf. Der Gefängnisarzt attestiert eine „Erschöpfungsdepression“. Amnesty international macht auf ihren Fall aufmerksam. Ilse kommt 1982 frei.

Der „Schmücker-Prozess“ läuft weiter. Er gilt als längster Strafprozess der deutschen Justizgeschichte. Ilse ist die Hauptangeklagte und schweigt. In erster Instanz wurde sie wegen Mordes am V-Mann Ulrich Schmücker im Berliner Grunewald zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Später verhedderte sich der Prozess in seinen Widersprüchen. Der Verfassungsschutz behinderte die Aufklärung der Ereignisse. 1991 wird das Verfahren nach 17 Jahren eingestellt. Der Mord bleibt ungesühnt.

Ilse hätte jetzt erzählen können, wie es wirklich war, ein Buch schreiben, in Talkshows auftreten, aber sie weigert sich, aus ihrem Leben Kapital zu schlagen. Das tun andere. Stefan Aust schreibt den Bestseller „Der Lockvogel“. Ilses Kommentar: „Oberflächlich und stark fehlerhaft.“

Rückblende: Ilse kommt als uneheliches Kind der Berliner Buchhalterin Clara Schwipper zur Welt. Die Erziehung übernehmen Großtante und Großonkel, Anarchisten im Widerstand gegen Hitler. 1944 lernt Mutter Clara einen neuen Mann kennen, einen strammen Nazi. Ihm folgt sie nach Helmstedt und später nach Wolfsburg, in die „KdF-Stadt“. Ilse immer im Schlepptau. An Wolfsburg und VW, wird sie später sagen, lasse sich exemplarisch die Kontinuität des Nazi-Faschismus ablesen.

Zunächst lebt Ilse ein unauffälliges Leben. Sie arbeitet bei VW, heiratet einen Kollegen, bekommt vier Kinder, von denen eins früh stirbt. Der Schmerz befeuert ihr politisches Bewusstsein. Ilse protestiert gegen die Lagerghettos der italienischen Gastarbeiter. Sie tritt in die SPD ein, wird aber schnell wieder ausgeschlossen, als sie Unterschriften gegen ein Verbot der DKP sammelt.

Ilse zieht mit ihren Kindern in eine Kommune, die erste in Wolfsburg. Die Kommunarden diskutieren und greifen anschließend in die Geschichte ein. Sie zünden eine Schulaula an, in der die NPD sich versammeln will, „befreien“ Kinder aus einem Erziehungsheim und sabotieren eine Gleisanlage von VW. Ilse, der Kopf der militanten Gruppe, muss für drei Jahre ins Gefängnis nach Vechta.

Die Kinder kommen zur Oma.

Als Ilses Prozess- und Gefängnisjahre vorüber sind, hat sie ihre Kinder längst verloren. Sie haben sich von ihrer Mutter losgesagt. Ilse trauert nicht, sie kämpft gegen die Tränen. Sie habe keine Fehler gemacht, sagt sie 1988. Sie dürfe sich in ihrer politischen Arbeit nicht erpressen lassen, auch nicht von persönlichen Bindungen.

Später ändert sie ihre Meinung. Aber die Kinder kehren nicht zurück.

Ilse schließt sich einer feministischen Gruppe an und hält Vorträge über Isolationshaft. Sie pflegt ihre demente Mutter. Und sie geht auf Tupperpartys, weil sie Tupper superpraktisch findet. Dort lernt sie Frauen kennen, die nicht im Kampf stehen, sondern Rezepte tauschen, Ausflüge machen und an einen Gott glauben, bei dem sie sich regelmäßig für alles bedanken. Ilse kennt nur den Modus der Anklage. Ihr Gegenüber ist nicht Gott, sondern der Staat. Bei einem Treffen der neuen Freundinnen kommt es zum Eklat.

Sag mal Ilse, worüber beklagst du dich eigentlich? Dir geht es doch gut, du hast eine Wohnung, immer genug zu essen, das bezahlt alles der Staat. Du hast doch noch nie gearbeitet...

Ilse ist schockiert über so viel Ungerechtigkeit. Was wissen denn diese Kaffeetanten von ihrem politischen Leidensweg?

So gut wie nichts. Ilse ist neugierig auf andere, mischt sich gerne in fremde Händel ein, über sich selbst gibt sie ungern Auskunft. Der Frauenkreis zerbricht.

Zum 70. Geburtstag, den sie groß feiert, lädt Ilse auch ihre Töchter ein. Als es schon ganz voll ist, schaut sie immer wieder zur Tür, ob nicht doch noch jemand kommt. Sie wartet vergebens.

Eine Woche nach der Feier ist sie im Krankenhaus. Die Ärzte sind zufällig auf einen „dunklen Schatten“ gestoßen. Krebszellen. In der Hüfte, in der Lunge, im Gehirn. Eigentlich überall. Die üblichen Gegenmaßnahmen wirken wie Nadelstiche in einen Schaumstoffball. Jetzt kommen die Töchter, und es fließen Tränen.

Ilse geht in ein Hospiz, um zu sterben. Ein Reporter wird vorgelassen. Er soll ein letztes Interview machen, das politische Vermächtnis der roten Ilse. Die Feministinnen kommen. Und eine Freundin, die an Gott glaubt. Mit ihr betet Ilse und liest Psalme aus der Bibel. Sie wünscht sich ein christliches Begräbnis. Thomas Loy

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