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Berlin: Im Essen wirklich vereint

Wie die Italiener sich beim Tafeln ihrer nationalen Zugehörigkeit vergewissern und wie sie vorbildlich das Alter ehren

„Italien ist nur ein geografischer Begriff“, schrieb Fürst von Metternich, der große Karten- und Staatenmacher des Europas des 19. Jahrhunderts. So sorgfältig, wie es die Natur mit Bergen im Norden und überall sonst mit dem Meer herum abgegrenzt hat, so heterogen ist das Land selbst, so unterschiedlich ist auch seine Kultur, so eigensinnig und so stolz auf ihre individuellen Eigenarten ist seine Bevölkerung. „Italien“ exististiert nicht, nicht anders als eine Idee. Vielleicht ein Ideal, wenigstens für manche, ein bequemer Begriff für Geografen und Historiker.

Die Wirklichkeit Italiens besteht aus vielen „Italien“. Venedig in seiner Vielfalt ist nicht Rom, so wie Rom nicht Neapel ist, das noch keine 200 Kilometer weiter weg liegt, oder Genua in der weitesten Entfernung Florenz gleicht, oder, Gott behüte, Mailand Palermo ähnlich ist.

Italien ist das einzige Land in der Europäischen Union, in dessen Parlament eine Partei vertreten ist, die ein ausgesprochener Gegner des Einheitsstaates ist, dem sie selbst dient – die Lega Nord. Diese Partei ist jetzt Teil der Landesregierung und es ist ihr gelungen, einen Teil ihres Programmes in Regierungspolitik zu übersetzen. Devolution heißt das, und es bedeutet, dass zum Beispiel der Geschichtsunterricht in Italien innerhalb kürzester Zeit keine Staatsangelegenheit mehr ist, sondern eine regionale. Kinder in Mailand werden vom kommenden Jahr an eine andere nationale Geschichte kennenlernen als die Kinder in Palermo, die keltische Wurzel und die französischen Verbindungen stehen dann gegen die Abenteuer mit den Normannen und den arabischen Freunden. Wie weit kann man sich in einem Land voneinander entfernen?

„Rai uno“, schrieb der Mailänder Schriftsteller Giovanni Chiara, dessen Familie übrigens zum Teil aus Sizilien und zum Teil aus der Toskana stammt und so das Ideal von Mazzini und Cavour in einen Haushalt zu übertragen weiß. „ ,Rai uno’ hat mehr für die Einheit Italiens getan als Garibaldi.“ Das ist sicher wahr, aber hilft es?

Es gibt nicht eine Stadt in Italien, die nicht ihre eigenen kleinen Verlage hat, die die Geschichte der Stadt und der Region in Bücher gießen und die Lieder und Geschichten der Region in der Sprache dieser Gegend verbreiten. Keine italienische Buchhandlung in der einen Stadt gleicht einer in der anderen Stadt. Wer sich auf dem Markt von Rom behaupten kann, ist auf dem Markt von Venedig taub und stumm zugleich. Das sizilianische Mädchen, das ich nach dem Weg fragte, schaute sinnierend und stempelte mich dann sofort zum „Italiener“ ab – was sie nicht ist – ebensowenig wie ich, übrigens. Das Italienische von Rai uno ist die lingua franca, die jeder umgänglich verträgt – und niemand zu Hause spricht.

Italien existiert nicht, aber es gibt doch lauter Italiener. Und sie haben in ihrer großen Verschiedenheit mehr, viel mehr miteinander gemeinsam als sie selber denken. Italien mag dann ein geografischer Begriff sein, die italienische Kultur aber besteht natürlich – und sie ist tief verwurzelt in dem Land, in dem sie blüht. Dieses Wurzeln darf ruhig wörtlich genommen werden: Die Italiener sind mit ihrer Region, aus der sie und ihre Vorfahren stammen, nicht nur durch die Sprache und die Geschichten verbunden, sie sind das vor allem durch das, was sie essen und trinken.

Ich kenne keine europäische Hauptstadt, wo der kleine Ladenbesitzer dem Supermarkt so deutlich überlegen ist wie in Rom. Innerhalb eines Radius’ von noch keinem halben Kilometer rund um mein Haus in einem sauberen, bürgerlichen römischen Viertel, sind bestimmt 15 kleine Lebensmittelläden und 17 Restaurants angesiedelt. Das ist typisch für die Stadt, es ist bezeichnend für das Land und es ist charakteristisch für das Volk. Über nichts reden die Italiener lieber als über das Essen: bei kleinen Festen, bei Begenungen auf der Straße, im Bus und in der Straßenbahn. Der soziale Verkehr besteht zum großen Teil aus Tipps, die einem mit einer gewissen Heimlichkeit anvertraut werden. All die Geschäftchen und die kleinen Restaurants haben ihre eigene Spezialität, das heißt: italienische Spezialität. Man findet gegewärtig sogar in Rom japanische Restaurants oder gewisse Formen thailändischer Küche, aber in unvergleichlich viel geringerem Maße als in Amsterdam oder Berlin. Es geht doch, vor allem beim Essen, um die Italianità und die Einheit davon findet ihren Ausdruck in einer großen Mannigfaltigkeit. Erst wenn er isst, wird der Italiener auch wahrhaftig Italiener.

Und so ist dann der eine kleine Laden berühmt wegen seines mozarella di buffalo, den der Ladenbesitzer alle zwei Tage persönlich bei einem Bauern in den Abruzzen abholt, mit dem er schon seit 20 Jahren befreundet ist. Der andere Laden verkauft einen einzigartigen prosciutto, der von einem Schwein stammt, das der Unternehmer noch persönlich gekannt hat, und ein dritter bringt jeden Mittwoch amaretti di sardi herbei, direkt von einem Bäcker auf Sardinien, der ein Großneffe seines Vaters ist. Bei jedem Bissen, den sie zu sich nehmen, bestätigen die Italiener ihre Verbundenheit mit ihrem Land, mit ihrer Kultur, denn die italienische Küche ist im Gegensatz zur französischen, die eine Gerichteküche ist, eine Produkteküche. Selbst in Rom identifiziert man jedes Produkt, bevor man es sich in den Mund stopft, und identifizieren heißt lokalisieren nach Herkunft.

Gibt es ein Land in Europa, ein reiches und wohlhabendes Land, in dem die Bevölkerung während der Sommerferien so massenhaft zu Hause bleibt wie in Italien? Mehr als 80 Prozent der italienischen Bevölkerung verbringt die Sommerferien im eigenen Land – und es gibt keinen einzigen Europäer, der ihnen darin Unrecht geben kann, denn Briten, Deutsche, Niederländer und sogar Kroaten und Franzosen kommen massenhaft, um sie zu begleiten. Was für die anderen Europäer ein Traum ist, ist für die Italiener Wirklichkeit, eine tägliche Wirklichkeit – aber dessen ungeachtet feiern, ja zelebrieren sie diese Wirklichkeit.

Die Qualität einer Kultur, lernte ich hier , liest man am besten an der Art und Weise ab, mit der sie mit ihren alten Menschen umgeht. In Rom gehören die Betagten und Hochbetagten zum täglichen tableau vivant auf Straßen und in Straßencafés, in Geschäften und Konzertsälen. Und ihnen wird mit der größt denkbaren Sorgfalt begegnet. Haben die arbeitenden Römer weniger Eile und mehr Zeit als die arbeitenden Berliner, die eiligen Londoner oder die eigensinnigen Amsterdamer? Natürlich nicht – sie haben nur eine ganz andere Auffassung von den Unterbrechungen, die die um Aufmerksamkeit bittenden Älteren haben. Auf der Post hat der Pensionär, der seine Pension abholt, per definitionem Vorrang, wie lang auch die Reihe sein mag. Im Straßencafé hat er das Recht, um ein Gespräch mit dir über die Zeitung oder ein Jugendfoto, das er aus dem Geldbeutel seiner Jackentasche hervorgeholt hat, anzuknüpfen – wie kurz deine Zeit auch sein mag, um deinen Kaffee auszutrinken.

Das rührt von einer ungeschriebenen Regel her, die offensichtlich jedermann gefällt: heute ich, morgen du, hodi tibi, cras mihi. Heute sind Sie alt, morgen werde ich es sein – und was hoffe ich sehnlicher, als dass ich so würdig behandelt werde, wenn ich alt bin und träge und zwei Mal in der Woche die gleiche Anekdote erzählen will. Es ist die bewegendste Manifestation des italienischen savoir vivre. Und dies erklärt die relative Ungerührtheit, mit der die Italiener den täglichen Mühsalen, einschließlich der politischen, entgegentreten.

Die Italiener, allen voran die Römer, haben alles schon gesehen – und sie sehen es noch stets, jeden Tag, in den Ruinen und Resten des Altertums, die imposant im Straßenbild, im Verkehr, im täglichen Leben anwesend sind. Sie leben auf der Endmoräne der Geschichte und sie sind mit jedem Schritt, den sie tun, ein Teil davon. Dann braucht man keine Erdkunde oder Geschichte mehr, dann braucht man keinen Mythos der nationalen Einheit mehr, um ein Bewusstsein von Volk und Kultur zu hegen. Sie spielen ihr Leben in einem grandiosen Dekor, das schafft Möglichkeiten, das schafft Verpflichtungen.

Michaël Zeeman lebt als Journalist in Rom.

Aus dem Niederländischen von Rolf Brockschmidt .

Michael Zeeman

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