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Berlin: Im Gitterwagen-Stau

Die U4 führt vom Nollendorfplatz zum Lidl, jeden Tag und vor allem sonntags. Das sieht man an den gelbblauen Tüten zwischen den Beinen, wenn es retour geht.

Die U4 führt vom Nollendorfplatz zum Lidl, jeden Tag und vor allem sonntags. Das sieht man an den gelbblauen Tüten zwischen den Beinen, wenn es retour geht. Dabei muss man wissen, dass die meisten Kunden des U-Lidl mit dem Auto kommen, weil die Pappen mit den Bierdosen die Bizeps so schnell ausleiern. So gegen 16 Uhr befindet sich der kleine Supermarkt unter dem Innsbrucker Platz im Ausnahmezustand. Die eingeschweißten Gurken liegen vereinsamt auf einem zerrütteten Kartonhügel, die Kohlrabi sind nur noch ein Schatten ihrer selbst, und in den kleinen Nestern für die Avocados haben sich eingetütete Chicoree eingenistet.

Ein heilloses Durcheinander auch zwischen den Regalen. Lidl-Fachkräfte versuchen verzweifelt, sich mit ihren überbreiten Tiefladern durch das Gitterwerk ineinander verzahnter Einkaufswagen zu schlängeln. Wer sich bis zur Kühltheke durchgeschlagen hat, erfährt, dass die Herausforderung Einkauf erst hier beginnt. Alle Wege führen zu den Kassen, und alle sind verstopft. Gitterwagen an Gitterwagen bis ans Fließband. Ein junges Szene-Pärchen mit Kind streitet sich liebevoll, ob sie nun die ganze Woche Zeit gehabt hatte einzukaufen oder nicht.

Der U-Lidl im Bahnhof Innsbrucker Platz ist eine Oase für zeit- und planlose Menschen, die sich durch die Wüstenei der Woche gekämpft haben und am Sonntag vor verschlossenen Supermärkten zu verdursten drohen. Meistens werden Bierbüchsen gekauft, oder Jumbo-Colaflaschen mit Chips und Süßigkeiten. Oder es handelt sich um reine Notkäufe wie Taschentücher oder Toilettenpapier. Kaum jemand ist wegen der langen Wartezeit vergrätzt. Eher dominiert die Scham: Ja, ich gestehe. Habe vergessen einzukaufen. Bin ein Sünder und muss deshalb Schlange stehen. Nur eine französische Immigrantin verdreht entnervt die Augen, als das Reizwort Ladenschlussgesetz fällt.

Früher gab es an jedem größeren Bahnhof von U-, S- und Deutscher Bahn einen Imbiss und einen Kiosk. Und vielleicht noch einen Automaten für Maoam und Snickers. Heute gibt es alles, was sich noch irgendwie mit dem Titel "Reisebedarf" verbrämen lässt, wobei allen klar ist, dass sich die modernen Bahnhöfe längst zu Einkaufscentern gemausert haben. Die Bahn wirbt sogar offensiv für einen Weihnachtsbummel in ihren "Shoppingwelten". Seit der letzten Generalsanierung haben sich - still und heimlich - ganz normale Supermärkte in die Bahnhöfe geschlichen, die ein ganz normales Sortiment bieten, mit dem feinen Unterschied, dass sie eben auch abends und am Wochenende offen sind. Für die Menschen, die einen großen Bahnhof in der Nähe haben, gibt es das Ladenschlussgesetz nicht mehr. Die anderen sind klar benachteiligt - eigentlich ein Fall für das Bundesverfassungsgericht. Doch Klagen etwaig benachteiligter Verbraucher oder Verbrauchermärkte gebe es nicht, sagt Bahn-Sprecher Gunnar Meyer.

Im Edeka Aktiv-Markt im Bahnhof Friedrichstraße ist es wie in einem überfüllten Club. Reingelassen werden nur so viele, wie rauskommen. Ab und zu wächst die Schlange 20 Meter weit in die breite Ladenstraße hinein. Punker kaufen ihre Sixpack-Ration "Karlskrone", gesetzte Eheleute den Glühwein im Angebot, Singles Milch, Müsli und Tiefkühlbrötchen für das Kater-Frühstück am Montag. Auch hier wartet das Volk artig und geduldig im Wissen um das seltene Privileg, am Sonntag shoppen zu dürfen. Im Ostbahnhof-Untergeschoss hat der Sonntagskunde sogar die Wahl zwischen Lidl und Minimal. Dazwischen deckt Rossmann die Versorgungslücke im Drogeriebereich. Eine Rolltreppe höher hat ein Klamottenladen geöffnet. So kann der Reisende vor Fahrtantritt problemlos einen ganzen Hausstand erwerben. Am Sonntag sind Bahnhofsbesucher aber vor allem durstig. Freunde eines konstant erhöhten Alkoholspiegels bevorzugen Lidl. Bürgerlich-nüchterne Shopper treffen sich an den herausgeputzten Auslagen von Minimal. Weil er immer bis spät abends arbeite, kaufe er regelmäßig sonntags ein, erzählt ein Mittvierziger. Übrigens sei es auch viel entspannter. Er würde am liebsten nur noch sonntags einkaufen, wenn es denn ginge. Am Ostbahnhof geht es schon sehr gut. Nun muss man Berlin nur noch zum Großbahnhof erklären, und das Ladenschlussgesetz mag für immer fortbestehen.

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