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Berlin: Im Inselrausch

Obstbauer Wilhelm Wils hatte 1879 eine clevere Geschäftsidee: Er erfand das Werderaner Baumblütenfest. Seither vergnügen sich Ausflügler auf der Altstadtinsel und dem Weinberg. Nur Fontane mochte Werder nicht

„Tante Klara ist schon um ein Uhr mittags besinnungslos betrunken. Ihr Satinkleid ist geplatzt. Sie sitzt im märkischen Sand und schluchzt ....“ Der Poet dieser Zeilen, der so lyrisch die Wirkung des Johannisbeerweins beschrieb, hieß Alfred Henschke, ist aber besser unter dem Künstlernamen „Klabund“ bekannt. Was für den Wiener der Heurige in Grinzing und für den Münchner die Wiesn im Oktober, war für den Berliner einst das Baumblütenfest in Werder.

Seit 1879 wird zur Blütezeit kräftig gefeiert und getrunken. Einst lockte vor allem der Obstwein die Menschen zu Zehntausenden, heute ist das Vergnügen eher ein Familienfest, bei dem man zur Baumblüte pilgert. Der über Jahrhunderte hinweg betriebene Weinanbau war in den Anfängen des Festes allerdings schon lange zum Erliegen gekommen. Seither hatte sich Werder zum wichtigsten Obstlieferanten Berlins entwickelt. Mildes Klima und leichte sandige Böden garantieren reiche Ernten bei Kirschen, Äpfeln, Erdbeeren und Johannisbeeren.

Früher verpackten die Bauern ihre Früchte in Holzbottiche, so genannte „Tienen“. Die Bottiche wurden auf Kähne verladen und von den Bauersfrauen nach Berlin gerudert. Jeden Nachmittag starteten 15 bis 20 dieser Schuten, um am nächsten Morgen in aller Frühe in der Stadt zu sein.

Die Fahrt über Havel und Spree geriet zur Wettfahrt, weil jeder wusste, dass Anlegeplätze rar waren. Wer zuerst anlandete, erzielte die besten Preise. Früchte, die sich nicht sofort verkaufen ließen, wurden zu Obstwein verarbeitet. Um diesen ohne Zwischenhandel zu verkaufen, hatte der Obstzüchter Wilhelm Wils eine clevere Geschäftsidee.

Auf seine Initiative hin öffneten die Bauern zur Baumblüte ihre Gärten für die Berliner, um sie dort mit Obstwein zu bewirten. Und die Berliner kamen – bald mit Sonderzügen und labten sich an den zuckersüßen Weinen, deren Wirkung sie oft unterschätzten. Wer abends den Weg zum Bahnhof nicht mehr aus eigener Kraft schaffte, wurde auf Handwagen dorthin gerollt und in offene, mit Stroh gepolsterte Güterwagen verfrachtet. Der kühle Fahrtwind wirkte ernüchternd.

Schützenwirt Richard Ebel hatte 1889 auf dem Wachtelberg den ersten Ausschank mit einem Aussichtsturm aus Holz eröffnet, der sogar Kaiserin Auguste Viktoria nach Werder lockte. Ebels Erfolg führte zum Bau von weiteren Ausflugsgaststätten, der „Friedrichshöhe“ und „Bismarckhöhe“. Da alle drei Etablissements auf Hügeln standen, konnten die Besucher, so lange der Blick noch nicht getrübt war, weit über die Havel blicken. Nach der Wirtschaftskrise 1929 nahmen die Besucherzahlen ab. Heute sind die großen Gaststätten geschlossen und in trostlosem Zustand. Trotzdem lohnt die Bergbesteigung wegen der herrlichen Sicht.

Die Bismarckhöhe öffnet ausnahmsweise am 22. Juni zwischen 18 und 22 Uhr, um die gerade restaurierte Stuckdecke des großen Tanzsaals vorzustellen. Und am 19./20. August, von 13-18 Uhr, kann man auf den Aussichtsturm und eine Ausstellung zur Geschichte des Ausflugslokals betrachten. Bis 2007 sollen die Gaststätte und der Turm wieder hergerichtet und neu eröffnet werden.

Viele Obstgärten sind aus dem Stadtgebiet leider verschwunden. Wo vor einigen Jahren im Frühjahr eine wahre Blütenpracht die Besucher anzog, stehen heute Einfamilienhäuser, in deren Gärten nur noch selten ein Obstbaum anzutreffen ist. Die Baumblüte ist jetzt hauptsächlich im Südwesten der Stadt zwischen Plötzin und Glindow zu bewundern.

Neben Obst- und Weinanbau ist der Fischfang bis heute geblieben: Am Inselufer sieht man Boote und Netze und lässt sich gerne vom Geruch der Räucheröfen anlocken. Ansonsten hat sich vieles verändert seit der Wende. Die Stadt ist farbiger geworden, Straßen wurden neu gepflastert, viele Häuser sind wieder angenehm anzuschauen. Die Heilig-Geist-Kirche und Mühle dominieren als Wahrzeichen die Inselsilhouette.

Die letzte von einst drei Bockwindmühlen auf der Insel war bis 1949 in Betrieb. Als sie 1973 abbrannte, suchte man nach Ersatz und wurde bei Jessen an den Elbauen fündig. In Einzelteile zerlegt kam die Mühle nach Werder und erhielt 1991 ihren neuen Platz.

Theodor Fontane hat in seinen „Wanderungen“ Werder und den Werderschen je ein Kapitel gewidmet. Erstaunlicherweise taucht der Dichter in den touristischen Broschüren Werders gar nicht auf, obwohl sich andere Städte, die er besuchte, sehr gerne mit dem schreibenden Wandersmann rühmen. Warum? Das wird beim Lesen schnell klar. Fontane schrieb nicht gerade schmeichelhaft.

Er schilderte die Vorteile der Insellage, aber auch die Nachteile, wenn die Menschen sich „in bedenklichem Grade“ verschließen und „eng, hart, selbstsüchtig“ werden. Zugleich zitierte er einen einheimischen Stadtrichter, der um 1620 den Werderschen kein gutes Zeugnis ausstellte: „Sie hassen alle Fremden, die sich unter ihnen niederlassen, und suchen sie zu verdrängen. Vor den Augen stellen sie sich treuherzig, hinterm Rücken sind sie hinterlistig und falsch.“ Vielleicht gibt es deshalb in Werder keine Fontanestraße.

Carl-Peter Steinmann

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