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Berlin: Im Schichtbetrieb

Unten Obdachlose, oben Studenten und Manager: Wen man im „Zentrum Lehrter Bahnhof“ treffen kann

Normalerweise begegnen sie sich nicht auf engem Raum: Studenten, Manager, Obdachlose. Vielleicht, weil sie das nicht wollen. Vielleicht aber auch, wenn es so einen Raum bisher nicht gab. Doch jetzt gibt es das „Zentrum Lehrter Straße“, ein Haus der Stadtmission der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Im Schatten der milliardenschweren Baustelle der Deutschen Bahn hat die Stadtmission einen Häuserkomplex übernommen, der jetzt eine Notunterkunft für Obdachlose, ein Jugendgästehaus, ein Seniorenwohnheim, ein Re-Integrationsprojekt für ehemalige Häftlinge, eine Krankenstation, Seminarräume und eine Kapelle umfasst. Einiges ist noch in Planung, aber viel steht schon:

Kurz vor 21 Uhr warten schon etwa 20 Männer, dass die Kellertür aufgehe. Dann werden immer ein bis zwei Obdachlose eingelassen, Mitarbeiter der Stadtmission nehmen sie in Empfang. Jeder wird abgetastet, denn Waffen, Alkohol und Drogen, das steht in mehreren Sprachen am Eingang, sind hier verboten. Es ist ein milder Tag gewesen, doch am Abend wird es noch einmal richtig kühl. Bis 31. März bietet das „Zentrum Lehrter Straße“ seine Kältehilfe an. 1995 begann das Projekt mit einem Kältebus, seitdem ist in Berlin kein obdachloser Mensch mehr erfroren, sagt Ortrud Kubisch von der Stadtmission.

1999 wurden im „Zentrum Lehrter Straße“ die vielseitigen Aufgaben konzentriert. Die eigentliche Aufgabe der Stadtmission soll sein, den Glauben unter die Menschen zu bringen. Im „Zentrum Lehrter Straße“ wird das pragmatisch gehandhabt. „Wir machen Angebote“, sagt Leiterin Karen Holzinger. Man ist direkt und unbürokratisch. Egal ob mit menschlichen, gesundheitlichen oder materiellen Problemen – jeder ist im Zentrum willkommen. Es gibt auch viele Angebote für interessierte Menschen, sich im Zentrum frühmorgens beim Frühstück oder abends bei einem Bier auszutauschen.

Vor sechs Jahren mietete die Stadtmission die ersten Gebäude des ehemaligen Altenheims unmittelbar an der Bahnhofs-Baustelle und richtete die Notübernachtung ein. Mittlerweile wird der ganze Gebäudekomplex auf dem 20000 Quadratmeter großen Grundstück von der Stadtmission genutzt. Das Gebäude mit dem Gästehaus hat die Mission bereits kaufen und renovieren können und investiert dessen Einnahmen in neue Projekte. Das soll auch mit den restlichen Gebäuden geschehen. Insgesamt zehn Millionen Euro sind für Kauf und Sanierung der Häuser notwendig, mit Spenden soll das Stück für Stück realisiert werden, mit 500 Euro wird ein symbolischer Quadratmeter finanziert. So sollen auch moderne Seminarräume für Manager geschaffen werden, die gefragt sein werden, wenn der neue Bahnhof 2006 in Betrieb geht.

Dort können dann Ex-Häftlinge im Service arbeiten, das merke von den Seminaristen sowieso keiner, sagt Sigfried Steffen vom Projekt „Drinnen und Draußen“. Und die Gefängnisinsassen, die kurz vor der Freilassung stehen, erhalten Orientierung und Beratung, wie ihr Leben „draußen“ aussehen könnte.

Im Zentrum sind Zivildienstleistende, Studenten, Gemeindepraktikanten, Schüler und viele ehrenamtliche Helfer unterwegs. Doris Heinzelmann aus Stuttgart ist zum zweiten Mal im Rahmen der Aktion „Berlin bei Nacht“ für sechs Wochen in die Hauptstadt gekommen. Tagsüber erkundet die Rentnerin die Stadt, abends bereitet sie das Essen für die Wohnungslosen zu. Fred H. ist seit Jahren arbeitslos und verdient sich mit zwei bis drei Nachtschichten pro Woche in der Notübernachtung ein paar Euro dazu.

Das ist die Mischung an Menschen, die für Karen Holzinger das Zentrum ausmacht. Mittel aus der Kirchensteuer erhält die Stadtmission für das Zentrum oder andere Projekte übrigens nicht. „Dadurch haben wir aber auch mehr Freiheiten“, sagt Ortrud Kubisch. „Die Kirche hätte vielleicht gar nicht den Mut gehabt, das ganze Gelände kaufen zu wollen. Wir versuchen es einfach!“

Frieder Bechtel

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