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Im toten Winkel: Ein Leben auf den Straßen von Berlin

Sie war fast unsichtbar, das war ihr Schutz und ihr Verhängnis. Frau Christiansen hat jahrelang ohne Obdach gelebt – und ohne Hilfe. „Man verstummt“, sagt sie.

Irgendwann wurde Frau Christiansen dann angezündet. Sie hat sich umgedreht und gesehen, dass ihre Wolldecke, die sie wie ein Cape um sich gewickelt hatte, brannte. Sie hat die Decke auf den Boden geworfen und die Flammen ausgetreten. Dann hat sie die Decke in einen Mülleimer gestopft und ist schnell weitergegangen. Wer das getan hat, wo genau das geschah und wann, weiß Frau Christiansen nicht. In solchen klaren Strukturen hat sie lange nicht gedacht. Sie hat lange auch nicht in ihnen gelebt. Sie weiß, dass es plötzlich komisch roch.

Wenn es noch eines Belegs dafür bedurft hätte, dass sie nicht mehr dazugehört, das wäre er gewesen. Sie war zu einer geworden, die angezündet wird wie herumliegender Abfall und auch so betrachtet wird, es habe jedenfalls niemand geholfen, sagt Frau Christiansen. Aber so einen Beleg hat sie gar nicht mehr gebraucht. Sie wusste am ersten Tag, dass sie nun raus ist. „Dass man eine Person darstellt, die nicht in die Gesellschaft passt“, sagt sie.

Frau Christiansen ist eine schmale Person von 50 Jahren, die hellen Haare zum Zopf gebunden, eine von denen, die im Sommer schnell braun werden, und ihr richtiger Name ist ein anderer, tut aber nichts zur Sache. Sie sitzt in einem Erdgeschosszimmer in Berlin-Moabit in einem Korbstuhl. Aufrecht, die kräftigen Hände gefaltet. Sie sagt oft „man“, wenn sie spricht, das schafft Abstand zum Erzählten. Frau Christiansen gegenüber sitzt eine Psychologin, das Zimmer ist ihr Büro. Sie sitzt auf einem rollbaren Bürostuhl, so dass sie ihren Abstand zu Frau Christiansen ändern kann. Manchmal rollt sie ganz nah zu ihr hin und berührt leicht ihren Arm. Bei Frau Christiansen geht das, hat sie herausgefunden. Andere Frauen, die erlebt haben, was Frau Christiansen erlebt hat, lassen sich nicht mehr anfassen.

Frau Christiansen war obdachlos, vier Jahre lang, das haben sie anhand von sogenannten „Biographiebausteinen“, von zeitlichen oder örtlichen Gewissheiten, rekonstruiert. Das ist für eine Frau ungewöhnlich lange.

Obdachlosigkeit. Oft nur wahrgenommen als Männerproblem, was Gründe hat. Obdachlose Frauen sind fast immer unsichtbar. Das ist ihr Schutz, aber auch ihr Verhängnis. Wie viele sie sind, ist schwer zu sagen. Auf 2500 wird ihre Zahl in Berlin geschätzt. Und nach allem, was man weiß, sind die meisten von ihnen psychisch krank, traumatisiert und geprägt von massivsten Gewalterfahrungen durch Männer. Was sich auf der Straße nicht ändert. Ende Januar wurde eine obdachlose Frau in einem Abbruchhaus von zwei Männern halb tot geprügelt und vergewaltigt, das wurde bekannt. Sonst kommen sie nicht vor. Man sieht sie nicht, wenn man nicht genau hinschaut, hört nichts von ihnen, wenn man nicht will.

Frau Christiansen kann über ihre Jahre auf der Straße „nur im Groben“ erzählen. „Anders geht es nicht“, sagt sie. Das große Drama bleibt unerwähnt. Sie habe versucht, sich zu beschäftigen, sagt sie. Sei viel U-Bahn gefahren. Sie habe in den Waggons über den Fenstern Plakate kleben sehen. Manche riefen zu Zivilcourage auf. Frau Christiansen sagt, ihrer Erfahrung nach hätten die Menschen, die normalen Menschen, für die anderen keine Zeit mehr. „Keine zwei Minuten“, sagt Frau Christiansen. Ein scheuer Blick. Das soll keine Beschwerde sein, das fiele ihr trotz allem nicht ein. Aber ein Appell könnte es sein. Als die Psychologin sie fragt, was ihr gefehlt habe in den Jahren, sagt sie: dass einer sie angesprochen hätte. Gefragt hätte, ob sie etwas brauche. Essen vielleicht. Sie selbst hätte die Kraft für diesen ersten Schritt nicht gehabt.

Derart ganz und gar auf sich allein gestellt, hatte sie die vielen Jahre über damit zu tun, nicht zu verhungern, nicht zu verdrecken, das sei ihr wichtig gewesen, einen Schlafplatz zu finden, vielleicht in einem leerstehenden Haus, nicht überfallen zu werden, nicht verrückt zu werden. Sie habe Pfandflaschen gesammelt, vom Pfandgeld gelegentlich etwas gekauft. Sie habe Gruppen gemieden, weil Gruppen in der Regel Ärger bedeuteten. Sie habe nicht an das Gestern und nicht an ein Morgen gedacht, sondern an die nächste notwendig werdende Bewegung. Dass sie die bloß nicht in die falsche Richtung macht. Sie sagt: „Der Rhythmus der Gedanken verändert sich.“

Auch zu den Ämtern drang sie nicht mehr vor, die Anlaufstellen sein sollen für Menschen in Not. Im Amt hätten die Menschen nie viel Zeit, sagt Frau Christiansen. Die hätten ja auch zu tun. Für die Hilfesuchenden bedeute das: „Du musst auf den Punkt kommen, aber wenn du so verrückt bist, kannst du das nicht.“

Einmal habe ein Polizist ihr den Weg zu einer Obdachlosenunterkunft gesagt. Ob sie den Polizisten zuvor angesprochen habe?, fragt die Psychologin. Nein, Frau Christiansen schüttelt den Kopf. Ob es denn Blickkontakt gegeben habe? Nein, sagt Frau Christiansen „das würde ich nie machen.“ So etwas hätte provozierend wirken können.

2010 kam sie über die Kältehilfe an die Fraueneinrichtung „Frauenbedacht“, in deren Haus sie inzwischen ein Zimmer hat und in deren Erdgeschoss das Büro von Britta Köppen ist, der Psychologin.

Britta Köppen ist die erste Psychologin, die ihr Büro direkt in einem Obdachlosenwohnheim hat. Nah dran und für die Frauen umstandslos erreichbar, hilft Köppen ihnen, hilfefähig zu werden. Sie sorgt dafür, dass Frau Christiansen und die anderen – das Haus hat 40 Plätze – sich auf Gesellschaft einlassen können, auf einen geregelten Alltag, ihr Misstrauen verlieren, Termine einhalten, Anträge ausfüllen, sich nicht so schnell verschrecken lassen. Eine Stiftung hat Köppens Stelle drei Jahre lang finanziert, die sind vorbei. Jetzt müsste das Land Berlin übernehmen. Es ziert sich schon eine Weile, und doch wird mit einer Zusage gerechnet.

Ende Februar hat Britta Köppen im Abgeordnetenhaus bei einem Empfang für die Sicherung ihrer Arbeit im „Frauenbedacht“ geworben. Köppen sprach von der persönlichen Hölle, in der die obdachlosen Frauen lebten. Von einem Übermaß an Gewalt, an Demütigungen, Missbrauch, Entmündigung, Krankheit, Vernachlässigung. Und sie nannte eine Zahl: acht. Acht Betten in einer ganzjährig geöffneten Notübernachtung für wohnungslose Frauen. Das ist es, was Berlin anbietet. Alle anderen Notunterkünfte sind gemischte Einrichtungen und aus erwähnten Gründen für die meisten von ihnen kein Ort, den sie jemals aufsuchen würden. Britta Köppen berichtete an jenem festlichen Abend aber auch von erstaunlichen Bewältigungsstrategien und von kreativen Lösungsversuchen, die zu befördern eine sehr dankbare Aufgabe sei.

Frau Christiansen konnte so geholfen werden. Auf ihrem Korbstuhl sitzend berichtet sie Britta Köppen, dass sich vor ein paar Tagen etwas geändert habe. Dass sie seither eine Ruhe in sich spüre, eine Entspanntheit. Frieden fast.

Das Überleben sei eine Leistung des Verstands gewesen, sagt sie.

Sie sitzt ganz still, als sie das sagt. Es ist ein ungewohntes Gefühl. Kaum dass sie es vor ihrer Obdachlosigkeit gekannt hätte. Eher war ihr Leben geprägt von der Sorge um andere. Frau Christiansen hat früh angefangen, sich um ihre pflegebedürftigen Eltern zu kümmern. Neben Kind und Job und einem Ehemann, dessen Gewalttätigkeit sie nur andeutet. „Der impulsivere Teil war er“, sagt sie und muss grinsen, als Britta Köppen „pfff“ macht.

Dann kam es vor einigen Jahren so, dass innerhalb kürzester Zeit ihre Eltern starben, ihr Ehemann weg war, ihr Chef mit Vergewaltigungsabsichten über sie herfiel, sie einen Magentumor attestiert bekam und ihr Vermieter die Schlüssel für die Wohnung haben wollte. Das war ein bisschen viel auf einmal. Frau Christiansen gab kurz nach, und dann fiel ihr Leben auseinander. Sie war plötzlich wohnungs-, job- und familienlos. Das Kind schickte sie zu seinem Vater und saß danach mit nur noch einer Tasche, einer von diesen großen rotweißblauen mit Reißverschluss, auf der Straße.

Frau Christiansen erzählt davon, wie es ist, wenn man auf einmal vor dem Nichts stehe, vor lauter verschlossenen Türen – „Sie trauen sich nicht anzuklopfen“, sagt Frau Christiansen. „Man wird für so etwas nicht geschult.“

„Man verstummt“, sagt sie auch. Und dass plötzlich alle weg waren. „Alle, die man mal kannte.“ Es gebe viele auf der Straße, die aus dieser Traurigkeit nicht wieder rauskämen. Sie hat das von sich fernhalten können. Überhaupt Gefühle. Das Überleben sei eine Leistung des Verstands gewesen. Und was hätten die ihr schon genutzt? Gefühle mutet sie sich erst jetzt wieder zu. In kleinen Mengen.

An diesem Apriltag bei Britta Köppen im Zimmer berichtet Frau Christiansen von einem Ämtergang, den sie allein und erfolgreich hinter sich gebracht habe. Mehr noch, sie habe auf dem Amt für ihre Zuverlässigkeit ein dickes Lob bekommen, sagt sie und lächelt verschämt. Britta Köppen freut sich mit, bestärkt Frau Christiansen mehrmals darin, dass sie auf einem guten Weg sei, dass sie Unfassbares erlebt habe und sich nun wieder sortiere, dass sie tolle Fortschritte mache und eine bewundernswerte Frau sei.

In ihrer Rede bei dem Empfang im Abgeordnetenhaus hatte Britta Köppen über das vollkommen zerstörte Selbstwertgefühl der obdachlosen Frauen gesprochen. Die Frauen definierten sich nur über ihr Scheitern und Versagen, machten sich ihr „Leben am Rande des Aushaltbaren“ selbst zum Vorwurf und seien sich selbst gegenüber ausschließlich negativ eingestellt. „Das heilsame Gefühl, dass alles gut ist, das einen Menschen gesund, leistungsstark, liebend oder sozial kompetent macht, fehlt“, hat sie gesagt. Und damit auch das gemeint, was Frau Christiansen als die Ruhe bezeichnet hat, die sie vor ein paar Tagen zum ersten Mal gespürt habe.

Sie traut sich wieder, Pläne zu machen, zu formulieren. Sich irgendwann mal wieder eine eigene Bleibe zurechtzimmern, hat sie gesagt. Aber nicht wieder so vollstellen. Nicht zu viel haben. Weil der Abschied von dem zu schmerzhaft war. „Das können Sie sich nicht vorstellen“, sagt sie.

Und wieder arbeiten. Sie habe Einzelhandelskauffrau gelernt und sei darin gut gewesen, weil sie Humor habe und ein Gespür für Situationen. Es hat ihr vielleicht beim Überleben geholfen. Später, nach dem Gespräch bei Britta Köppen, steht sie auf dem Balkon ihres Zimmers im fünften Stock des Hauses. Sie hat von hier einen weiten Blick über Berlin. Den Fernsehturm sieht sie, und dahinter noch weit im Süden weiß sie Neukölln, ihren Bezirk. Da hat sie früher gelebt, und da ist sie auch geblieben, als sie keine Wohnung mehr hatte. In der Gegend um den Hermannplatz.

Seit sie im „Frauenbedacht“ lebt, geht Frau Christiansen fast täglich spazieren. Manchmal bis in die alte Gegend. Sie geht zehn Kilometer hin und zehn wieder zurück. Einfach so. Für Britta Köppen sind das Selbstheilungsmethoden. Der Körper reagiere sich ab, lasse den Druck raus durch Bewegung. Das sei eine wunderbare Therapie.

Und für Frau Christiansen ist es eine Möglichkeit festzustellen, dass sie wieder dazugehört. Wenn sie vor Schaufenstern stehen bleibt, wenn sie ein paar Kleinigkeiten einkauft. Postkarten oder etwas in der Art. Und sie sagt, dass sie die Menschen anschaue, an denen sie vorbeikommt und überlege, wen sie ansprechen würde, wenn ihr noch mal „so etwas passiert“.

Vorhin, am Ende des Gesprächs in Köppens Zimmer, war auch schon etwas passiert. Da ist Frau Christiansen plötzlich herausgekommen aus ihrer Rolle als Hilfesuchende. Da hat sie Britta Köppen etwas gefragt. „Und wie lange arbeiten Sie schon in diesem Beruf?“, hat sie gefragt. Eine ganz normale Frage, gestellt in einem ganz normalen Gespräch von zwei ganz normalen Frauen.

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