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Berlin: Im Zeichen des Mitgefühls

Zwischen Dom und Brandenburger Tor zeigten Tausende tiefe Verbundenheit mit Amerika – jeder auf seine Weise

Von Lothar Heinke

Am ersten Jahrestag des Terroranschlags auf die USA erinnerte sich die Stadt auf vielfache Weise und an unterschiedlichen Orten an das Trauerdatum des 11. September 2001. Für einen Moment hielt Berlin den Atem an – als die Glocken des Doms den offiziellen Gedenkgottesdienst einläuteten und hunderte Berliner und Touristen am Lustgarten die Ankunft von über 500 geladenen Gästen verfolgten. Blumen, Kränze und handgeschriebene Bekundungen der Trauer und des Mitgefühls mit dem amerikanischen Volk lagen, wie vor einem Jahr, Unter den Linden an der Straße, die zur streng bewachten US-Botschaft führt. Ansonsten pochte das Herz der Hauptstadt so unstet wie jeden Tag – von Angst keine Spur.

Es waren nicht nur die Bilder der brennenden Twin Towers, die gestern unsere Erinnerungen bestimmten. Am Brandenburger Tor dachten wir an die Kundgebung, zu der vor einem Jahr spontan 200 000 gekommen waren. Unter den Linden hat auch heute ein Kiosk das Sternenbanner neben die deutsche Fahne gehängt, und die junge Angestellte eines Stadtrundfahrtunternehmens sagt: „Nur heute, aus Verbundenheit“, als wir nachfragen, ob dieses weiße T-Shirt mit den Stars and Stripes auf der Vorderseite zu ihrer ständigen Berufskleidung gehört. Besonders stark sind die Erinnerungen an der Neustädtischen Kirchstraße: „Hier waren unser Bundeskanzler, seine Frau und der gerade nach Berlin gekommene amerikanische Botschafter die Ersten, die sich in ein Kondolenzbuch eintrugen – Tausende folgten“, sagt der Geschäftsführer des dortigen Café Einstein, Dieter Wollstein. „Ergreifende Szenen mitfühlender Trauer spielten sich hier ab.“ Gestern lagen schon am Vormittag Kränze, Mitteilungen und in US-Flaggen gewickelte Blumen neben ewigen Lichtern am Straßenrand. Eine Frau schiebt unter ihr Blumengebinde eine kleine weiße Tafel, auf der sie („niemals in unserem Leben werden wir diesen Tag vergessen“) dem amerikanischen Volk ihre Sympathie versichert. Wir fragen sie nach ihren Beweggründen. Sie beginnt den Satz: „Noch immer muss ich daran denken, wie . . .“ – und geht weinend davon.

Mit den Tränen kämpft auch ein junges Mädchen, das eigens aus Regensburg gekommen ist, um bei dem Gottesdienst im Dom eine Rose und eine Sonnenblume für den durch den Anschlag für immer verlorenen Freund niederzulegen. Leider verwehrt man ihr den Eintritt. Sie kommt zu spät, bis elf Uhr wurden „normale“ Besucher eingelassen, die Plätze des Volkes sind besetzt. Oder sind es T-Shirt und Rucksack, die nicht in das von feierlichem Schwarz bestimmte Bild passen wollen? Hunderte folgen der Lautsprecherübertragung und hören, dass wir weit vom Frieden entfernt sind – vor genau einem Jahr eilten am Abend Tausende in den Dom, fühlten Trauer wie Hilflosigkeit und beteten: „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir“.

Jetzt hat jemand mit Kreide auf den Fußgängerweg zum Dom seine Gedanken zum Tage aufgeschrieben: „Die Toten mahnen uns! Hört Ihr die Schreie des World-Trade-Center? 11. 9., 8.47. Es lebe der Frieden – made in Germany“. Ein japanischer Tourist ist beeindruckt: „Ja, dieser Tag gehört der ganzen Welt, niemand, wo auch immer er lebt, bleibt davon unberührt“. Ein Mann sieht neue Anschläge und Opfer, wenn die Sicherheit nicht gestärkt wird, um uns vor jenen zu schützen, die Hass und Mord predigen in dieser Welt. „God bless America“ steht auf einem Schild am Hals einer Frau aus Lankwitz, „die verfluchten Seelen dieser Terroristen kommen nicht ins Paradies“. Und noch eine Erinnerung an einen 11. September, den des Jahres 1973. „Militärputsch in Chile, Tausende Tote, Gefolterte, Verschwundene – gedenkt auch Ihrer!“ fordert auf seinem Plakat ein Pfarrer i. R. aus Lichterfelde, der den 11. September vor 29 Jahren und die folgenden Ereignisse in Santiago erlebt hat: „Ich sehe und höre noch immer die Angriffswellen der Bomber. . .“

Der Mann im Raum der Stille am Brandenburger Tor schließlich hat seine eigene Erfahrung mit den Ruhesuchenden gemacht, die zu ihm kommen, 200 am Tag. Der Wunsch nach Werten und die Fragen zur Art des Lebens sind drängender geworden: Wie geht es weiter in unserer globalen Welt?

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