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Berlin: Immer mehr wählen die Briefwahl

Vermutlich werden 500000 Berliner ihr Kreuz per Post oder im Internet setzen

Von Ulrich Zawatka-Gerlach

Kaum sind die Stimmzettel gedruckt, werden sie dem Landeswahlleiter aus der Hand gerissen. Sehr viele Berliner haben schon einen Antrag auf Briefwahl gestellt und seit Donnerstag werden die Unterlagen den Wählern zugeschickt. Das Internet spielt dabei offenbar eine wichtigere Rolle als bei der Bundestagswahl 2002. Damals beantragten 7200 Berliner den Wahlschein auf elektronischem Weg. Diesmal waren es bereits nach vier Tagen 3173 Anträge.

Die ersten Anzeichen deuten also darauf hin, dass Landeswahlleiter Andreas Schmidt von Puskás richtig liegt. Er rechnet für die Bundestagswahl am 18. September in Berlin mit 450 000 bis 500 000 Briefwählern. Vor drei Jahren waren es 447 000. Von Wahl zu Wahl steigt der Anteil derer, die nicht mehr ins Wahllokal gehen. Der gelbe Postkasten wird zur Wahlurne. Es gibt allerdings auch viele Berliner, die ihren Brief mit den Stimmzetteln weit vor dem Wahltag persönlich im Bezirksrathaus abgeben. Bei der ersten Bundestagswahl in Berlin nach dem Mauerfall wählten nur 8,1 Prozent der Wähler per Brief. Bei der Wahl 2002 waren es 23,6 Prozent.

Damit war Berlin keineswegs Spitzenreiter. Vor der Hauptstadt lagen München (30,4 Prozent), Köln (27,4 Prozent) und Hamburg (25,4 Prozent). Nur Steglitz-Zehlendorf und Charlottenburg-Wilmersdorf konnten mit der Münchener Quote mithalten, während in den östlichen Wahlkreisen der Anteil weit unter dem Durchschnitt lag. Marzahn-Hellersdorf war mit 16,7 Prozent das Schlusslicht. Eigentlich ist die Briefwahl nur „aus wichtigem Grund“ erlaubt. Dazu gehören hohes Alter, berufliche Zwänge oder Krankheit. Das Bundesverfassungsgericht ging 1967 und 1981 davon aus, dass diese Gründe „glaubhaft zu machen sind“. Über diese Urteile ist das Leben hinweggegangen. Kein Wahlleiter wird den Briefwählern nachspionieren, um ihre Motive zu erforschen.

Das haben inzwischen Wissenschaftler getan. Mit dem Ergebnis, dass etwa 60 Prozent der Briefwähler am Wahltag in Urlaub sind, einen Besuch oder Ausflug planen. Je 10 Prozent gehen aus Bequemlichkeit nicht ins Wahllokal oder geben berufliche Gründe an. Alter und körperliche Gebrechen spielen eine untergeordnete Rolle. Männer und Frauen, Junioren und Senioren nutzen die Briefwahl gleichermaßen. Umfragen und Analysen haben aber ergeben, dass Hochschulabsolventen doppelt so häufig per Brief wählen wie ehemalige Haupt- und Realschüler. Schaut man sich die Berufsgruppen an, favorisieren Beamte und Selbstständige die Briefwahl. Der CDU und der FDP sind die Briefwähler in Berlin besonders zugetan. Bundesweit profitieren auch die Grünen.

Vorreiter für die Briefwahl, die es fast überall in Europa, USA, Kanada und Australien gibt, ist die Schweiz. Im Kanton Genf liegt die Quote bei 95 Prozent, in Basel bei 85 Prozent. Bis 2010 wollen die Eidgenossen erstmals Online-Wahlen durchführen. In Deutschland und Österreich hingegen diskutieren Juristen darüber, ob freie und geheime Wahlen noch gewährleistet sind, wenn sie nur noch teilweise im Wahllokal stattfinden, vielmehr schon Wochen vor dem Wahltag in den Wohnzimmern.

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