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Berlin: Immer wieder angespannt

Wiebke Nulle schießt im Jahr mehr als 40 000 Pfeile ab, damit sie zu Olympia darf

Das Zentrum des deutschen Bogenschießens liegt zweieinhalb Meter unter der Erde im Nordosten Berlins. In einem stillgelegten Schwimmbecken im Sportforum Hohenschönhausen stehen 24 Zielscheiben, zwölf auf jeder Stirnseite. Über dem ehemaligen 50-Meter-Freiluftbecken hat der Olympiastützpunkt eine Wellblechkonstruktion errichten lassen und es auf diese Weise zu einer Sporthalle umgebaut. Auf dem mit grünem Teppich ausgelegten Beckenboden steht Wiebke Nulle. Sie sucht nach dem perfekten Schuss. Ihr Körper ist angespannt. Das linke Auge fixiert für eine Sekunde das Ziel, dann schnellt die Sehne des Bogens zurück, und der Aluminiumpfeil fliegt mit 220 Stundenkilometern auf die 18 Meter entfernte Strohscheibe. Die 23-Jährige ist nicht zufrieden mit ihrem letzten Versuch. „Ich habe gezuckt, da ist der Pfeil danebengegangen.“

Bogenschießen erfordert nicht nur viel Kraft – die Frauen müssen bei jedem Spannen des Bogens 17 Kilogramm bewegen –, sondern ist auch technisch anspruchsvoll. Kleinste Fehler im Bewegungsablauf können dazu führen, dass die Pfeile am Ziel vorbei fliegen. Das Training der Schützen besteht deshalb aus Wiederholungen. Immer wieder die gleiche Bewegung: 100 Schüsse in der Stunde, 40 000 im Jahr. „Bogenschützen brauchen hohes Konzentrationsvermögen und viel Ausdauer“, sagt Ko-Bundestrainer Martin Frederick. „Es sieht alles so leicht aus, dabei steckt viel dahinter.“ Den Athleten verlange das Training viel Geduld ab. „Sie müssen sich auch noch nach drei Stunden Training auf jeden einzelnen Schuss konzentrieren können“, sagt Frederick. Wiebke Nulle wird es nicht langweilig: „Natürlich ist es manchmal monoton, aber es macht Spaß, für den perfekten Schuss zu trainieren.“

Dennoch könnten die 40 000 Pfeile, die Nulle im Jahr abschießt, nicht ausreichen für die Weltspitze. Die Asiaten, vor allen die Koreaner, kommen auf bis zu 150 000 Pfeile im Jahr. „Bei der WM im letzten Jahr haben die uns abgehängt“, sagt Nulle. Die Deutschen verpassten durch das schlechte WM-Ergebnis die Olympiaqualifikation als Team, nun müssen sie versuchen, sich Einzelstartplätze für Athen zu sichern. Die Olympischen Spiele sind nahezu die einzige Möglichkeit, als Bogenschütze von einer größeren Öffentlichkeit beachtet zu werden. Dabei haben die Verantwortlichen schon einiges getan, um den Sport für das Fernsehen attraktiver zu machen. Früher sahen Wettkämpfe in der Regel so aus, dass hunderte Schützen nebeneinander auf Zielscheiben schossen. Heute ermitteln die Bogenschützen ihre Sieger im K.o.-System, Frau gegen Frau, Mann gegen Mann, wer weniger Punkte erzielt, scheidet aus – das ist spannender für die Zuschauer.

Dennoch geraten die Bogenschützen nur alle vier Jahre zu Olympia in den Blickpunkt. Das spornt an. Auch Wiebke Nulle wollte 2000 unbedingt in Sydney dabei sein. Damals war sie Weltranglistenerste. Doch im entscheidenden Wettkampf war sie zu nervös. „Es war kalt und regnete. Meine Finger waren total klamm. Plötzlich ging nichts mehr.“ Nulle schoss manche Pfeile sogar an der Zielscheibe vorbei. Die Olympiaqualifikation war verloren. Nach Sydney fuhr Nulle trotzdem. Bei einem Abendessen für ostdeutsche Sportler saß die Wahlberlinerin, die eigentlich aus Wilhelmshaven kommt, neben Gerhard Schröder und erzählte ihm ihre Geschichte. Der Bundeskanzler lud sie daraufhin ein, mit ihm nach Australien zu reisen.

Noch trainiert Nulle hauptsächlich im umgebauten Schwimmbecken auf der 18-Meter-Hallendistanz. Sie beginnt aber schon jetzt, sich an die im Freien vorgeschriebene Entfernung von 70 Metern zu gewöhnen. Im Mai findet am Rande der EM in Brüssel der Qualifikationswettkampf für Athen statt. Wiebke Nulle ist zuversichtlich, dass sie die Qualifikation schaffen und zu Olympia reisen wird – auch ohne den Bundeskanzler.

Steffen Hudemann

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