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Berlin: Immigration: Mit langem Atem an die "Jahrhundert-Aufgabe"

Barbara John geht einkaufen. Von ihrem Büro in der Potsdamer Straße 65 sind es 200 schnelle Schritte zum Birlik Market an der Ecke Kurfürstenstraße.

Barbara John geht einkaufen. Von ihrem Büro in der Potsdamer Straße 65 sind es 200 schnelle Schritte zum Birlik Market an der Ecke Kurfürstenstraße. Als sie draußen den Gemüseverkäufer auf Türkisch anspricht, strahlt der Mann. Vor vier Jahren hat er nach Berlin geheiratet. Sein Deutsch reicht gerade aus, um sich mit den Kunden über Salat und Tomaten zu verständigen. "Die typische Geschichte", kommentiert John, außer Hörweite des Gemüsemannes. Sie will ihm keine Lektion erteilen. Hinterher im Büro holt sie die Zahlen hervor. Rund 35 Prozent der Berliner Türkinnen und Türken suchen sich ihre Ehepartner in der alten Heimat. Wenn ein Elternteil gar kein Deutsch spricht, ist die Chance, dass die Kinder es vor der Einschulung lernen, gering.

Immerhin, der Gemüseverkäufer hat Arbeit. Vor drei Wochen war Barbara John mit einer Schreckensmeldung an die Öffentlichkeit gegangen: 42 Prozent der in Berlin lebenden Türken im erwerbsfähigen Alter sind arbeitslos. Von den 20 400 beim Arbeitsamt Gemeldeten haben 18 360 keine Berufsausbildung und 12 300 nicht einmal einen Hauptschulabschluss. Seitdem John dies gemeinsam mit dem Türkischen Bund Berlin Brandenburg und dem Chef des Landesarbeitsamts bekannt gab, reißt die Diskussion über die Ursachen nicht ab.

Ist die Integration gescheitert? Waren alle Förderprogramme, die sie in den letzten 20 Jahren aufgelegt hat, vergebens? Barbara John lacht auf. Eher fassungslos über diese resignative Frage als resigniert: "Es sind doch nur zwanzig Jahre." Keine lange Zeit für den Integrationsverlauf. "Das ist ein Jahrhundertprozess." Der Politik fehle dafür allerdings "der lange Atem". Als sie im Juni 1981 von Richard von Weizsäcker für das Amt vorgeschlagen wurde, war die wissenschaftliche Assistentin der Pädagogischen Hochschule - "Spezialgebiet schulische Integration ausländischer Kinder" - die Frau der Stunde für die Probleme der türkischen Gemeinde in Berlin. Die damals 42-Jährige saß außerdem für die CDU in der Bezirksverordnetenversammlung Kreuzberg.

Viele Modellversuche versandeten

Die designierte Ausländerbeauftragte machte sogleich eine Reihe von Vorschlägen für die Integration der Berliner Türken: Jugendliche sollten eine bessere Schul- und Berufsbildung bekommen. Lehrer müssten besser auf die Arbeit mit ausländischen Kindern vorbereitet werden. Der Ausländeranteil pro Klasse sollte auf 20 Prozent begrenzt werden. Arbeitslosen - damals hatten 12 000 der 120 000 in Berlin lebenden Türken keinen Job - wollte John einen Teil ihres zu erwartenden Arbeitslosengeldes anbieten.

Mit dem Geld könnten sie sich eine neue Existenz in der Türkei aufbauen. Das Rückkehrerprogramm für langzeitarbeitslose Ausländer gibt es bis heute. Viele andere Programme seien viel zu früh abgebrochen worden, klagt John.

Demnächst will Schulsenator Klaus Böger (SPD) eine "Arbeitsgruppe Sprachförderung" gründen. Barbara John wird mit am Tisch sitzen. Sie wird dafür plädieren, nicht bloß ein paar Modellversuche zu starten - und wissen: "Der gute Wille ist da, aber wer soll das finanzieren?" Einen Schulversuch hat sie schon 1977 in der Heinrich-Zille-Grundschule in Kreuzberg initiiert: Lehrerstudenten beschäftigen sich nachmittags mit türkischen Schülern - Spielsprache Deutsch. Das Projekt versandete.

Immer noch werden die türkischen Grundschüler mittags nach Hause geschickt, wo die meisten nur Türkisch sprechen. "Das tägliche deutsche Sprachbad muss länger dauern als ein paar Schulstunden", sagt John. Für Mütter, denen die Sprachkenntnisse fehlen, um mit ihren Kindern Deutsch zu sprechen, vorzulesen oder wenigstens deutsches Kinderfernsehen zu gucken, gibt es zwei Modellversuche. Seit drei Jahren können sie in Innenstadtbezirken tagsüber in den Schulen ihrer Kinder lernen. Ebenfalls seit 1999 läuft ein ABM-Programm zur Sprachförderung: Integrationshelferinnen gehen in die Familien.

"Sie üben mit den Müttern Deutsch und versuchen, sie zu Lehrerinnen ihrer Kinder zu machen", erklärt John. Beide Projekte seien ein großer Erfolg, immer mehr Mütter melden sich an, sagt John. "Flächendeckend" müsste man so etwas anbieten. Derzeit sind Mittel für zehn ABM-Stellen bewilligt. Was aber heißt "Erfolg", wenn selbst Eltern, die in Berlin Abitur gemacht haben, mit ihren Kindern nur Türkisch sprechen? "Das ist ein Jahrhundertprozess", wiederholt John.

Seit 20 Jahren macht Barbara John ihre türkischen Familienbesuche. Unzählige Male stieg sie inzwischen im Hinterhof in den vierten Stock oder traf sich mit Großfamilien in einem Ca¿fe. Sie erlebte tragische Geschichten: Der jüngste Sohn einer Familie, die sie mehrmals besuchte, wurde drogenabhängig, beim Dealen erwischt und wurde abgeschoben. Die Ausländerbeauftragte konnte es nicht verhindern. Aber sie setzt sich weiter dafür ein, in Deutschland aufgewachsene straffällige Jugendliche mit Deutschen gleich zu behandeln. In ihrer eigenen Partei kann sich sich mit solchen Positionen nicht durchsetzen. "Türken-Bärbel" wird sie in ihrer Partei, der CDU genannt. Ein bisschen abwertend sei das schon gemeint, vermutet John. Sie wurde aber auch von keinem SPD-Senator abberufen.

Barbara John spricht lieber über andere Erfolgsgeschichten: 30 türkische Rechtsanwälte, 20 Ärzte, etliche Banker und Computerspezialisten gingen aus türkischen Familien in Berlin hervor. "Die haben voll ihre Bildungschancen genutzt, die wurden von ihren Eltern unterstützt, die wurden nicht frühzeitig verheiratet", sagt John.

Der Chef des Birlik Market in der Potsdamer Straße hat die Ausländerbeauftragte vor ein paar Tagen in ihrem Büro besucht. Yücel Derwis, der vor 25 Jahren für 50 Pfennig Stundenlohn auf dem "Türken-Markt" am Maybachufer anfing, hatte keine Probleme, sagt Barbara John. Er besitzt heute zehn Birlik-Supermärkte in Berlin. In dem Gespräch ging es um das Programm für die "Woche der türkischen Gastfreundschaft". Im Oktober 2001, vierzig Jahre nachdem die ersten türkischen Gastarbeiter nach Berlin kamen, wollen türkische Geschäftsleute den Berlinern bei einem Gläschen Tee zeigen, "was aus ihnen geworden ist".

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